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Am letzten Tag
R. Hugh
Die Bauten auf dem Kasernengelände sahen kaum
anders aus als sonst. Sie wirkten verlassen, ja, aber das war schon seit
Monaten so. Die Bewohner waren weg, längst heimgekehrt. Und sie hatten
alles mitgenommen außer den Gebäuden.
Die tiefstehende Nachmittagssonne warf ihr fahles Licht gegen den braunen
Verputz der ehemaligen Soldatenunterkünfte, Dienstgebäude, Versorgungstrakte,
ließ ihn erdfarbener leuchten, als er in Wirklichkeit war. Den aus
Metallplatten zusammengesetzten Hangars verlieh es einen matten Glanz.
Das jetzt höher stehende Gras auf dem weiten Feld wogte im steten
Wind. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, es kurz zu halten, seit
dort keine Hubschrauber mehr landeten, betankt wurden, wieder aufstiegen.
Seit sie abgezogen waren, hatte man hier keinen Motorenlärm mehr
gehört. Nur der Wind trug ab und zu Geräusche aus der Stadt
oder von der zu ihr führenden Straße heran.
Im Windschatten des großen Hangars wucherte Unkraut. Niemand kümmerte
sich darum. Auch Diril Petric nicht. Er hatte kein Interesse daran, sich
als Unkrautjäter zu betätigen. Wozu auch? Er war hier nur angestellt,
darauf zu achten, daß sich kein Unbefugter auf dem Gelände
zu schaffen machte.
Doch wie sollte ein einzelner Mann dieses riesige Gelände wirksam
bewachen? Trotz Dirils regelmäßiger Kontrollgänge war
schon das eine oder andere Fenster eingeschlagen oder gar ausgebaut, manche
Tür aus den Angeln gehoben und entwendet worden. Diril hatte daraufhin
stets zu Hammer, Brettern und Nägeln gegriffen und hatte die Fensterhöhlen
zugenagelt, die Türlöcher verrammelt. Dann hatte er die Schäden
unter 'besondere Vorkommnisse' in seinem Bericht vermerkt.
Nur einmal hatte Diril die Sicherheitskräfte aus der Stadt herbeordert.
das war, als sich zwei Burschen am Tower zu schaffen gemacht hatten. Besonders
abgesichert, als einziges Gebäude auf dem Gelände, war der Tower
noch in Funktion. Immer noch drehte sich dort oben das Funkfeuer mit seinen
Lichtfingern, die nachts über den Platz huschten und weit hinaus
in die Landschaft fächerten: weiß, weiß --- grün
--- weiß, weiß --- grün. Es war Bedingung des Räumungsvertrages
gewesen, daß das Funkfeuer bis zum letzten Tage in Betrieb zu bleiben
habe. Bis zum letzten Tage.
Diril blieb auf seinem Rundgang stehen und schaute hinüber zum Tower.
Das Feuer drehte sich auch jetzt untertags, denn es ging ja nicht nur
um das Licht. Das 'Weiß, weiß --- grün` hatte eine unsichtbare
Entsprechung, die Piloten den Weg wies. Bis zum letzten Tage...
Diril wußte nicht, wie das sein würde, heute, an diesem letzten
Tag. Würden sie jemand herschicken, der den abgesperrten Bereich
betreten und das Licht abstellen konnte? Sinnierend stand Diril, bis seine
Sinne nicht mehr wahrnahmen, was seine Augen sahen. Er starrte ins Leere.
Mit den Achseln zuckend drehte er sich nach einer Weile um und ging in
Richtung des Wohnwagens, der ihm und seiner Familie als Unterkunft diente.
Niemand hatte ihm etwas gesagt. Wozu auch? Er war ja nur der Hausmeister,
der Aufpasser, und sein Job war unabhängig davon, ob das Licht auf
dem Tower kreiste oder nicht. Er hatte das Gelände - nichts sonst
- in Ordnung zu halten für ... ja wofür? Und würde er den
Notstrom-Diesel weiterhin warten müssen, wenn sie das Licht abschalteten?
Die Überprüfung des Notstromdiesels war eine von Dirils ansonsten
nicht sehr zahlreichen Aufgaben. Diril steuerte auf die Tür der 'Kommandantur'
zu, wo im Keller der Motor stand. Unschlüssig stand er vor der Tür,
überlegte es sich dann doch anders.
Zwischen Straße und Gehweg standen auf einem schmalen Rasenstreifen
mehrere Birken, die im stetigen Wind rauschten. Die dünnen Zweige
schwangen im Luftzug hin und her. Das matt glitzernde Laub raschelte,
begann bereits hie und da davonzuwirbeln und welk zu Boden zu sinken,
wenn der Wind es losließ. Diril kannte die gewissen Ecken auf dem
Gelände, wo es sich ansammelte.
Er stieß die Tür zu seinem Wohnwagen auf. Im abgeteilten Nebenraum
lief das Fernsehgerät. "Petric, bist du das?", hörte
er seine Frau aus dem Wohn-Schlaf-Fernsehzimmer rufen.
"Ja", brummte er.
"Komm! Die Übertragung hat bereits begonnen."
"Wo ist der Junge?", fragte Diril und wandte sich nach links
zur Kochnische, der 'Küche'.
"Ist mit dem Rad in die Stadt gefahren. Will sich mit Schulfreunden
die Übertragung ansehen und dann mit ihnen feiern."
Diril brummte: "Feiern. Ja. Feiern."
Endlich verließen sie das Land. Nach wievielen Jahren? Sie waren
schon da gewesen, als sein Großvater hergezogen war.
Er holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, ein Glas aus
dem Küchenbord und ging, die Flasche öffnend und das schäumende
Bier in sein Glas gießend langsam ins Fernsehzimmer.
"...die letzten Kontingente der amerikanischen Streitkräfte
das Land", sagte der Sprecher gerade. Das Bild zeigte ein weitläufiges
Flughafengelände. Mehrere Großtransporter nahmen Reihen von
Soldaten in voller Kampfmontur auf, die jeweils zu zweit im Glied durch
die weitgeöffneten Tore in die Maschinen gingen. Nicht im Gleichschritt,
nein, lässig, ruhig, ab und zu winkend.
Schnitt.
Eine nach oben geklappte Flugzeugnase. In den dunklen Schlund darunter
rollten mehrere offene Geländefahrzeuge.
Schwenk.
Eine Tribüne voll mit Menschen in bunten Kleidern und feierlichen
Anzügen. Die internationalen Ehrengäste und die Schulkinder
mit den Fähnchen. Ein Rednerpult, zweige- und fähnchengeschmückt.
Schnitt.
Eine Kapelle spielte Marschmusik. Die Reden waren bereits gehalten, denn
die Menschen auf der Tribüne wirkten gelöst. Auf der Fläche
des Rollfeldes standen Militärs und Offizielle in Gespräche
privaten Charakters vertieft. Sie schüttelten Hände - der Fernsehkommentator
nannte Namen - sie klopften sich auf die Schultern, dezent, vornehm, nicht
kumpelhaft. Verabschiedungszeremoniell.
Der Reporter: "Sie sehen, meine Damen und Herren, Deutsche und Amerikaner
verabschieden sich als Freunde. Die Bilder sprechen für sich."
Schnitt.
Blick auf ein Kai im Hafen. Ein silbergraues Militärschiff legte
ab. Sirenengedröhn. Eine Kapelle spielte, Menschen winkten.
Ein anderer Sprecher: " Soeben verläßt das letzte der
amerikanischen Kriegsschiffe Bremerhaven, verehrte Zuschauer. Eine Ära
geht zu Ende." Matrosen, aufgereiht an der Reling. Grüßend
standen sie stramm. "Meine Damen und Herren, wie ich soeben aus der
Sendezentrale erfahre, schalten wir gleich weiter, das heißt, wir
blenden uns ein in die Sendungen der Intervision. Wir werden Bilder aus
unseren sozialistischen Nachbarländern sehen, die uns in den Jahren
der Verhandlungen ja ein ganzes Stück näher gerückt sind."
Schnitt.
Lärm schwerer Fahrzeuge, die in Kolonne auf eine Grenzstation zurollten.
Hochgehobener Schlagbaum, salutierende Soldaten, winkende Menschen.
Schwenk.
Die Grenzstation aus der ferne, einsam in einem weiten Tal, das nur von
flachen Hügeln begrenzt wurde. Die Panzerkolonne wälzte sich...
Schnitt: ganz nah.
... Kette nach Kette über die Straße nach Osten. Eine fremde
Stimme berichtete in getragenem Tonfall.
Schnitt.
Die selbe Szene aus der Luft.
"Russische Panzer verlassen Polen", übersetzte eine Dolmetscherin.
Diril trank einen kräftigen Schluck aus seinem Glas, setzte es dann
auf dem heruntergeklappten Bett neben sich ab. "Ob die uns heute
noch jemand schicken, der das Funkfeuer abstellt?", fragte er.
"Ich weiß nicht, Diril", antwortete sein Frau.
"Wer weiß, was sie mit dem Gelände hier vorhaben",
meinte er. "Hat sich schon eine Weile niemand mehr von denen hier
sehen lassen... Schau, Frau. Jetzt sind sie alle fort." Auf dem Bildschirm
konnte man das letzte der Großraumflugzeuge starten sehen.
"Ja, ja. Schon wahr. Aber die Herren vom Verwaltungsamt werden jetzt
'ne ganze Menge Arbeit haben", ging sie auf Dirils vorherige Bemerkung
ein. "Ich glaube, da kommt heute keiner." Sie stand auf und
stellte den Apparat leise. Auf dem Schirm war der Kopf eines Politikers
der Opposition zu sehen, der von einem Fernsehjournalisten interviewt
wurde. Diril schaute gar nicht mehr hin. Er nahm noch einen Schluck aus
seinem Glas, bevor er aufstand und es zurück in die 'Küche'
trug.
"Ich muß noch ein Loch im Zaun ausbessern", rief er, schon
von außerhalb, in den Wohnwagen hinein. Dann ließ er die Tür
hinter sich ins Schloß fallen.
"Hier bin ich", Petric, lachte seine Frau, die sich aus einem
Fenster lehnte. Wie meist, wenn sie ihn bei der Arbeit sah, oder immer
Fremden gegenüber, benutzte sie seinen Familiennamen.
"Wenn ich zurückkomme, können wir ja auch ein wenig feiern",
meinte Diril. "Schließlich ist das ein historischer Tag."
"Ob das wirklich die letzten waren?"
"Na, wenn die das im Fernsehen zeigen." Diril Petric packte
seinen Werkzeugkasten fest am Griff und ging um die Ecke in Richtung Zaun
davon.
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