Bushveldt's Kaninchen

 

R. Hugh

 

Tiefe Schatten lagen über dem Land. Die Nacht kam, hatte vom Tag nichts übrig gelassen als einen silbrigen Streifen fahlen Lichts im Westen. Carl stand auf einem Turm, oben, hinter dem Waldrand, kurz unterhalb des Bergkammes, von wo er weit über das Land schauen konnte, die Ebene, die sanften Hügel bis zum Himmel.
Schwarze Schatten flogen ihre Kreise um den Berg. Ein Zug gebeugter Gestalten, brennende Fackeln in den Händen, hob sich silhouettenhaft ab vom Horizont, zog schräg über die Ebene, von den Hügeln kommend, weit am Berg vorbei. Durch das Tal kroch der glühende Lindwurm der Eisenbahn.
Nicht träumen, Carl. Du stehst auf Wache, darfst das nicht. Noch einmal mußt du zurück, nachschauen, ob Mümmelchen noch lebt.
Die Luft war erfüllt von Raunen, von leisem Wimmern. Fern klangen die funkelnden Töne eines kleinen Glöckchens - die Uhr auf dem Rathausturm im Dorf. Ein Käuzchen schrie, die Bäume rauschten. Ein Zweig knackte. Die Waffe in Carls Arm zuckte hoch. Langsam drehte er sich um seine eigene Achse. Nichts. Der Wald war still.
Du mußt nocheinmal hinunter, Carl, nach dem Kaninchen schauen. Phhhh! Wie kann man nur seine Träume für Wirklichkeit halten? Es ist Nacht! Und der Wind raschelt mit den Blättern der Bäume.
Nur drüben am Hügelkamm reckten sterbende Tannen ihre kahlen Äste und Zweige in den Himmel. Ein dunkles Netzwerk, ein Wall als lebendige Wehr war dieser Wald für den Berg. Die Baracken dazwischen waren tiefes Dunkel. Sie drängten sich zusammen, geduckt wie verängstigte Riesen, die das Kommen der Nacht fürchteten.
Du mußt da hinunter, Carl. Rück' deine Maske zurecht. Bald kommt Bushveldt, um dich abzulösen. Die Lichter an der Straße werden angehen. Wie dunkle Katzen werden die Lastwagen unter den Bäumen herankriechen, dem Schein ihrer Funkelaugen folgen: ein neuer Kommandant, eine neue Mannschaft.
Ein letzter Blick in die Runde. Sieben Reiter fern am Horizont, wie Scherenschnitte aus schwarzem Papier, jagten den Rand zum Himmel entlang und verschwanden in den Hügeln. Leise Trommelwirbel und ein Wehen wie von Wind. Silbergraue Spiralen aus Luft bewegten die Zweige der Bäume, und schwarze Schatten tollten mit ihnen.
Carl, geh jetzt! Das Kaninchen erwartet deinen Besuch. Du stehst Wache und siehst das alles nicht. Du spürst nichts von alledem.
Carl betrachtete das Spiegeln des Silberlichts, den Schimmer von Widerschein über der Landschaft, der wie eine Kugel aus glasigem Stoff den Himmel bedeckte. War der Mond aufgegangen?
Es wurde ans Tor geschlagen. "Laß mich ein!", rief die Stimme eines Mädchens. Ein leichtes Wenden des Kopfes. Lauschen. Nein. Nichts.
Ein feste Burg, ein feste Burg... Carl, du mußt die Runde machen.
Ein Blick auf die Leuchtziffern der Uhr.
Ja, es ist Zeit, Carl.
Leise Furcht beschlich ihn.
Was ist, wenn...
Erneut wendete er den Kopf in den Wind. Da war etwas. Die Furcht kam in Wellen. Ein Zittern durchlief die Burg. ...ein feste Burg ist unser... "Wie bist Du hergekommen, wie über den Wall aus Zweigen, die Mauer aus Glas, die uns umgibt?"
"Ich kann zaubern", antwortete das Mädchen, Feengestalt unter den Bäumen.
"Wir sind Geheimnis. Wir sind schwarz. Wir sind Macht. Wir sind millionenfacher Tod. Verstehst du?! Du kannst uns nichts tun. Ein Kokon aus Gedanken schützt uns."
Das ist unmöglich. Niemand kann zaubern.
Carl rückte seine Maske zurecht, schulterte die Waffe. Es war Zeit.
Weißes Glitzern. "Du brauchst ja unbedingt einen Beweis, Soldat. Hier!" Ein kleines Etwas flog gegen die Kuppel aus glasigem Stoff. Sie zerbarst in tausend kleine Splitter, die im Silberlicht des Mondes blitzend zu Boden fielen. Carl steckte unbeeindruckt den Schlüssel in die Sperre, drückte seine Codezahlen. Niemand kann zaubern. Die Tür zum Inneren des Turms fuhr surrend zur Seite. Die kreisenden Schatten verharrten in ihrem Flug um den Berg, der Zug der gebeugten Gestalten stockte. Die Zeit stand still. Nur die Reiter jagten erneut den Himmel entlang. Der Kokon zitterte.
"Laß mich ein!", kam erneut die Stimme vom Tor.
Surrend fuhr die Tür zurück, schloß mit einem lauten Klack Carl von der Außenwelt ab. Die innere Tür der Schleuse öffnete sich.
Er blinzelte, schaute ihr in die Augen, fand sich in ihren Armen wieder.
"Du kannst uns nichts tun. Wir sind Geheimnis, sind schwarz, ein Loch in der Wirklichkeit. Ein Kokon aus Gedanken schützt uns."
Der Kokon schoß silberne Fangfäden nach ihr. Sie wischte sie mit einer schnellen Bewegung beiseite, einer kleinen Drehung ihres Körpers.
"Na gut", sagte sie, "ich gehe wieder, laß dich allein, Soldat. Aber ich komme wieder." Sie eilte zurück auf die hohe Warte, hinaus in die Welt... ohne Türen zu benützen.
Carl wandte sich ab, nach langen Augenblicken des Staunens, begann die eiserne Treppe hinabzusteigen: fünf Kontrollen, drei ohne zwei mit Bildschirm.
Da war mehr Licht am Horizont. Wollte es nicht endlich Nacht werden? Gebannt starrte Carl in das Licht, gelähmt, unfähig, sich zu wehren. "Was ist los, Gefreiter Hain? Ist Ihnen nicht gut?"
"Doch, doch. Es ist nur..." Der Zug der gebeugten gestalten stand um den Berg. Die Leute lächelten. Dahinter im Halbkreis die Reiter. Sie warteten.
Carl schaute ihr nach, wie sie unter den Bäumen im Dunkeln verschwand, Schritt um Schritt kleiner werdend, schemenhafter.
Sag etwas, Carl! Der Hauptmann wartet. "... die Maske drückt ein wenig, Herr Hauptmann."
Carl schaltete den Kontrollbildschirm aus, ohne sich weiter um den Hauptmann zu kümmern. Die letzte der Türen glitt auf.
Da ist es, Carl, das Kaninchen. Mümmelt friedlich vor sich hin. Weiß nichts vom Tod in den Fässern.
Sie waren dreilagig den Wänden entlang gestapelt.
"Weißt du", flüsterten die Gedanken aus dem Kokon, "Wünsche allein machen es auch nicht, auch nicht das Hoffen, schon gar nicht Gebete, keine Religion oder Philosophie, nicht Macht, nicht Wahn. Die Götter machen's nicht, und wir, die Gedanken: nein, wir auch nicht. Das... läßt allein dich übrig, Carl Hain. Du mußt es machen..."
Schritte auf dem Korridor. Die Waffe in Anschlag gebracht.
Nein, nein. Niemand kann zaubern.
"Gefreiter Hain! Sie werden vorzeitig abgelöst. Sie melden sich im Sanbereich.
Das würde ja bedeuten, seine Träume zu verraten.
"Ja!", antwortete Carl durch die Maske. "Das Kaninchen ist in Ordnung."
*
"Komm schon, Magnum", begrüßte Carl den Wirt. Nun laß doch endlich von dem Glas ab. Du wirst es noch dünn und brüchig polieren."
Magnus hielt das Glas prüfend gegen das Licht, warf Carl einen Blick zu, brummte etwas, es klang wie dumpfes Grollen in seinem Kugelbauch, schenkte dann aber wortlos drei Finger breit Whiskey in das Glas. Carl nahm das Bourbon-Glas an sich, schwang sich auf einen Barhocker und trank es in einem Zug leer.
Der Kühlschrank hinter der Theke summte, die Musikbox dudelte leise, obwohl sonst kein Gast mehr da war, der sie hätte anstellen können.
Carl schob das leere Glas über die Theke auf Magnus zu, der nun an einem Bierkrug herumwischte.
"Na, Wache gehabt?", fragte Magnus,
"Noch einmal dasselbe, Magnum", bestellte Carl, ohne auf die Frage des Wirtes einzugehen. "Und dann ein Bier."
Carl stützte seinen Kopf in die Hände und verlor zusehends die gespielte Fröhlichkeit, die er beim Hereinkommen zur Schau getragen hatte.
"Weißt du", erzählte er, ohne darauf zu achten, ob der Wirt auch zuhörte, "du starrst fast ständig auf das Kaninchen, ob es noch in seinem Käfig herumhoppelt. Und wenn es sich einmal fünf Minuten nicht bewegt, dann klopfst du mit dem Gewehrkolben an die Gitterstäbe."
Das Telefon klingelte. Magnus, der Wirt, stellte das Bierglas, an dem er herumpoliert hatte, zurück ins Regal, während er mit der anderen Hand bereits nach dem Hörer griff. "Ja!", brüllte er in die Muschel, obwohl kein Lärm von Gästen ihn dazu zwang. Macht der Gewohnheit.
"Ja, der ist hier..."!
Carl hob den Kopf gegen die bleierne Müdigkeit, die ihn erfasst hatte.
"Hhm", sagte Magnus und legte dann auf. "Ich soll dir ausrichten", wandte er sich an Carl, "Bushveldt's Kaninchen sei tot."
Carl saß plötzlich aufrecht und steif auf dem Barhocker.
"Sag, ist das ein neuer Code?", fragte Magnus.
...
...
Durch die engen Gassen des Dorfes hallten laute Hufschläge der Pferde von schwarzen Reitern.

©1982/85

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ernst-walter hug
schwäbisch hall

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