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Carols Flug nach
Amerika
R. Hugh
Wie unten im Blau, das sich endlos auszubreiten schien,
entdeckte Carol einen feinen weißen Streifen, eine weißen
Spur gleich. Vielleicht ein Schiff, das dort unten im Ozean seine Spur
zieht, dachte Carol. Und gleich darauf fragte sie sich, ob das sehr ungewöhnlich
war, daß sie aus solch großer Höhe die Spur eines Schiffes
wahrnehmen konnte. Sie starrte krampfhaft nach unten, glaubte auch einen
schwarzen Punkt vor dem weißen Gischtstreifen ausmachen zu können.
Aber bevor sie sich sicher war, verschwand die Unregelmäßigkeit
im Blau unter der Tragfläche des Flugzeugs.
Carol blickte die vernieteten Metallplatten entlang, aus denen die Tragfläche
bestand, fühlte Schauder leichter Furcht über ihren Rücken
kriechen, als sie die Tragfläche wabern und flattern sah. Sie wußte,
das hatte nichts zu bedeuten, und ihr Verstand kämpfte die Furcht
nieder. Entspannen, entspannen Carol, befahl sie sich selbst mit innerer
Stimme.
Sie hob den Blick weiter hinauf in den Himmel. Keine Wolken, weit und
breit. Nur ganz leichter Dunst in der Ferne und ein heller Streifen Kondenswasser,
das sich im Strom der Abgase eines anderen Flugzeugs gesammelt hatte,
das dort hinflog, woher sie gerade herkamen.
Die Stewardess ging lächelnd zwischen den Sitzreihen entlang nach
vorne zum Cockpit. Der Kapitän hatte sie wohl gerufen.
Ohne Vorwarnung kippte die Tragfläche auf ihrer Seite in die Höhe.
Ein Ruck ging durch die Maschine, als würde sie plötzlich abgebremst.
Das Murmeln der Triebwerke änderte seine Tonlage. Einige Fluggäste
beschwerten sich vor sich hinschimpfend. Mit leisem 'Pling' leuchtete
das Signal "Gurte anlegen" auf. Die Tragfläche auf Carols
Seite senkte sich wieder in die alte Lage zurück. Das Murmeln der
Treibwerke wurde wieder einen Ton höher. Alles normalisierte sich.
Carol schaute immer noch aus dem Fenster. Von schräg vorne rasten
einige schwarze Punkte auf die Maschine zu, die sich rasch als eine Gruppe
von Militärflugzeugen entpuppten. Sie passierten in sehr geringer
Entfernung.
Eine wirklich seltsame Begegnung hier in der Weite über dem Ozean,
dachte Carol. Zuerst die Spur von Schiffen unten auf dem Wasser, dann
das große Flugzeug in Richtung Europa, und jetzt eine ganze Gruppe
von Militärflugzeugen...
Auch andere Passagiere hatten die Militärmaschinen gesehen und unterhielten
sich darüber. "Ausweichmanöver", verstand Carol einen
Wortfetzen von der Unterhaltung des Mannes eine Sitzreihe hinter ihr.
Der Rest blieb unverständlich. Der Mann hatte eine unmögliche
Aussprache. Sie drehte sich unauffällig um, konnte aber nur seinen
weißen Haarschopf rund um die Glatze an seinem Hinterkopf sehen.
Der Mann hatte sich ebenfalls umgedreht, sprach nach hinten mit einem
Mann eine Sitzreihe weiter.
"Das hätte der Pilot weiß Gott auch ein wenig früher
ankündigen können", keifte eine für Carol unsichtbare
weibliche Stimme. Sie schien der älteren kleinen Frau zu gehören,
die Carol vor dem Abflug in der Sitzreihe hinter sich gesehen hatte.
Das Gurtanlegezeichen war immer noch nicht erloschen. Carol mochte den
Gurt nicht und lockerte ihn ein wenig. Sie schaute den Mittelgang vor
und zurück. Keine Stewardess ließ sich blicken. Dabei hätte
Carol jetzt so gern eine Tasse Tee getrunken.
"Meine Damen und Herren", ließ sich kurz darauf die Stimme
einer Stewardess vernehmen, "wir haben Ihnen leider eine unerfreuliche
Mitteilung zu machen. Die Crew hat einen Funkspruch erhalten, wonach die
amerikanische Ostküste zur Zeit nicht angeflogen werden darf. Da
wir vor kurzem bereits den nördlichsten Punkt unseres Fluges hinter
uns ließen, haben sich Flugkapitän Scott und unser Copilot
Mannior entschieden, abzudrehen und in Reykjavik auf Island um Landeerlaubnis
zu bitten." Es knackte im Lautsprecher. Keine weitere Erklärung
folgte. Aber die Tragfläche auf Carols Seite hob sich wieder nach
oben, die Triebwerke gingen vom Murmeln in ein sirrendes Kreischen über.
Carol fühlte sich in ihren Sitz gedrückt.
"Bitte bewahren Sie Ruhe, meine Damen und Herren. Dieses Flugmanöver
ist aus technischen Gründen notwendig. Wir werden Ihnen anschließend
Kaffee servieren. Wir danken für Ihr Verständnis." Erneut
hörte Carol das Knacken im Lautsprecher.
Die Leute murrten. "Was ist los?", fragten sie. Und: "Warum
landen wir nicht in New York?" "Weil es, wenn wir dort ankämen,
kein New York mehr geben wird", murmelte der Mann auf Carols rechter
Seite mit fahlweißem Gesicht auf die einige Sitzreihen weiter vorn
gestellte Frage. Carol stierte ihn an. Der Mann hatte Angst, richtig Angst.
"Wieso?", fragte sie mit etwas zu lauter Stimme. Auch sie beschlich
leise Angst.
"Das war doch nur eine Frage der Zeit. Lesen Sie keine Zeitungen?"
Carol schüttelte den Kopf, war verwirrt. Der Mann starrte wie versteinert
auf die Sitzlehne seines Vordermanns. "Es ist Krieg ausgebrochen.
Ost-West-Konflikt! Sagt Ihnen das etwas in ihrem blonden Köpfchen?"
Carols Hand verkrampfte sich, krallte sich in die heruntergeklappte Armlehne.
Draußen vor dem Bullauge senkte sich die Tragfläche in ihre
alte Lage zurück .
Hysterie brach im Flugzeug aus. Es gab einige Leute mehr, die dieselbe
Vermutung wie der Mann neben Carol geäußert hatten. Alle redeten
und schrien durcheinander.
"Ich habe morgen einen wichtigen Termin in New York!", rief
ein Mann, der auf der anderen Seite der mittleren Sitzreihe aufgestanden
war. Er schien noch nicht begriffen zu haben, was da vor sich ging. "Ist
es wahr, was wir vermuten?", fragte eine Frau die Stewardess, die
mit verkrampftem Lächeln den Gang zurückkam. Die Frau stand
auf, hielt die Stewardess fest. Diese blieb stehen und nahm ganz gestrenge
Ruhe die Hand der Frau von ihrem Arm. "Bitte setzen Sie sich hin!",
befahl sie mit versteinertem Gesicht.
"Still! Seid still! Seid still! Diese Dame hat uns etwas zu sagen",
schrie die Frau gellend. Die Stewardess war unterdessen bis zu ihrem Ruheraum
gegangen, hatte zu einem Mikrofon gegriffen, das dort in einer Wandhalterung
gehangen hatte.
"Meine Damen und Herren, bitte beruhigen Sie sich. Meine Kolleginnen
und ich" der Lärm verebbte. Alle schauten sie gebannt
auf die Stewardess. Einige Leute waren aufgestanden, um sie besser zu
sehen, als ob Sie dadurch ihr Worte besser verstehen könnten.
Carol saß wie gelähmt in ihrem Sitz.
"Wir werden in etwa fünf Minuten heißen Kaffee oder Tee
servieren. Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen und lassen Sie die
Gurte angelegt. Danke."
"Ist es wahr, was hier vermutet wurde?", schrie die Frau, die
sie vorher am Arm festgehalten hatte. "Geben Sie uns doch Antwort."
"Ja! Beantworten das Frage", radebrechte ein orientalisch anmutender
Mann von weiter hinten.
"Bitte, meine Damen und Herren", versuchte die Stewardess die
Leute zu beruhigen, warten Sie doch bitte, bis wir den Kaffee serviert
haben. Ich möchte Kapitän Scott nicht vorgreifen. Er wird sich
nachher über die Bordanlage an Sie wenden. Wir können nichts
anderes tun, als unseren Flug nach Reykjavik fortzusetzen. Bitte bewahren
Sie Ruhe und bleiben Sie auf Ihren Plätzen... Und machen Sie bitte
die Gänge frei, damit wir mit unseren Servierwagen durchkommen. Danke."
Sie hängte das Mikrofon zurück in seine Halterung und ging nach
vorne durch in die Bordküche. Das Geschrei in der Maschine hob von
neuem an. Alle redeten durcheinander, stellten Vermutungen an, malten
sich die schwärzesten Bilder von der totalen Zerstörung New
Yorks aus, taten so, als sei das alles nicht wirklich und nur eine Art
Spiel, redeten von versäumten Terminen, klagten über Verwandte,
die nun vergeblich auf dem Kennedy-Airport warteten.
"Tot, tot, tot", hörte Carol eine Frau schreien. "Marian,
beruhige Dich", beschwichtigte ein Mann und kramte in seiner Jackentasche.
Er förderte ein Pillenrohrchen zu Tage und gab es seiner Frau. "Hier,
nimm das!", sagte er. Carols Blick ging von der schreienden Menge
zum Fenster und wieder zurück. Ziellos. Halt suchend. Sie schaute
auf ihren Sitznachbarn, der vor sich hin murmelte. "Jetzt haben wir
den Salat", sagte er, als er ihren Blick bemerkte. Dann murmelte
er wieder Unverständliches.
Die Stewardessen kamen mit den Servierwagen. "Kaffee oder Tee?"
Die Damen schenkten ein und stellten die Becher auf heruntergeklappte
Tischen vor den Sitzen. "Kapitän Scott wird in wenigen Minuten
zu uns sprechen."
"Ist es wiklich wahr?", fragte der Mann neben Carol leise. Die
Stewardess sah ihn fest und stumm an. Dann nickte sie kurz. Schnell schob
sie den Wagen weiter. "Tee oder Kaffee?"
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