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Die Schatten schwarzer Flügel
R. Hugh
Sie fuhren durch die düstere Stadt.
Es war der dritte Tag, und auch die Hauptstadt hatte ihre rußgeschwärzten
Häuserwände. Sichtbare Spuren der Straßenkämpfe und
Unruhen, zu denen es nach Bekanntwerden der Bedrohung gekommen war. Das
Chaos der vergangenen Tage hatte einer beklemmenden Ruine Platz gemacht.
Nur wenige Menschen waren auf den Gehwegen zu sehen. Sie drückten
sich mit gesenkten Köpfen an den Mauern entlang, gingen dennoch mit
schnellen, zielstrebigen Schritten.
Kaum Fahrzeuge auf den Straßen. Keine Lichter, alles düster,
selbst das übliche Spiel der Ampelanlagen fehlte. Die Armee hatte
Verdunkelung angeordnet.
Ihr Fahrzeug bog um eine Ecke und hielt wenige Häuser später
am Straßenrand. "Wir sind da", sagte der Fahrer. Er drehte
sich um nach seinen Fahrgästen, einem jungen Mann und einem Mädchen
mit langem Haar. "Das war meine letzte Fahrt", stieß er
hervor, "ich halte das nicht mehr aus. Ich haue ab."
Der junge Mann und das Mädchen schauten sich schweigend an. "Was
macht es?" fragte Odeen Toba den Fahrer?
"Elf sechzig", antwortete dieser nach einem kurzen Blick auf
die Zähluhr. Odeen gab ihm zwanzig.
Hastig stiegen er und das Mädchen aus.
"Ihr Wechselgeld!", rief der Fahrer. "Behalten Sie es!
Was nützt jetzt noch Geld", gab Odeen zurück und nahm das
schweigsame Mädchen beim Arm. "Auch gut", murmelte der
Fahrer. Er zog die Tür von innen zu und fuhr los. Hoffentlich hat
er Glück, dachte Elayn, als sie von Odeen mehr gezogen als freiwillig
das kurze Stück Gehsteig entlang ging, bevor sie gemeinsam in einem
Hauseingang verschwanden. Ein Windstoß wirbelte Papier die Straße
entlang.
"Habt ihr was zu essen mitgebracht?" Der Bärtige, der ihnen
geöffnet hatte, schaute sie mit fragendem Blick an.
"Neun. Wir haben nichts mehr hier, als wir auf dem Leib tragen. Alles
andere ist bereits auf dem Lastwagen. Habem deine Freunde denn nichts
hier gelassen?" Elayn war immer noch unsicher, ob alles auch klappen
würde. Nervös schweifte ihr Blick von ihrem bärtigen Freund
zu Odeen und zurück. Auch Odeen mußte unverkennbar seine Ungeduld
bezwingen. "Du willst doch hier nicht etwa noch Zeit mit Essen verlieren,
Yorka?", fragte er.
"Zeit? Noch ist es nicht so weit, Odeen. Was glaubst du, was jetzt
außerhalb der Stadt los ist?", entgegnete Yorka. "Im Augenblick
würden wir nicht einmal unsere ausgewählten 'Schleichwege' erreichen.
Die Straßen sind jetzt alle verstopft. Was ihr sonst in der Hauptverkehrszeit
in der Stadt vorfindet, das spielt sich jetzt alles auf den Ausfallstraßen
ab. Stop and Go, Stau, Hupkonzerte,,, Wir werden noch warten müssen."
Yorka winkte ab. "Zeit haben wir noch genug. Kommt! Setzt euch! Oder
legt euch hin, ruht euch aus. Eure Kräfte braucht ihr später
noch. Ich wecke euch schon, falls es losgeht. Stockmar hat sich auch noch
gar nicht gemeldet." Er deutete mit dem Kinn zu einem Funkgerät,
das auf dem Fenstersims stand.
Elayn schaute Odeen fragend an. Der zuckte resignierend mit der Schulter
und warf sich angezogen auf das ungemachte Bett, das in der Ecke gegenüber
der Tür stand. Bis dorthin drang kaum Licht. Draußen hatte
die Dämmerung eingesetzt.
Elayn kuschelte sich an Odeen, der sie beschützend in die Arme nahm.
Im Nebenraum hörten sie Yorka auf und ab gehen, der nervöser
war, als er bereit gewesen wäre zuzugeben.
Sie standen zu dritt an der großen Glastüre, die zum winzigen
Balkon an der Hausfront hinausführte. Auf dem niedrigeren Dach des
gegenüber liegenden Hauses glänzte Feuchtigkeit. Es hatte am
frühen Morgen leicht geregnet.
Hinter ihnen ging die Tür. Yorkas Frau, die während der Nacht
gekommen war, stand dort. "Kommt ", sagte sie. Yorka und das
junge Paar drehten sich um. Schweigend. Es war nicht notwendig, etwas
zu sagen. Sie wußten, Stockmar hatte sich endlich gemeldet. Er sah
eine Chance für ihr Durchkommen. Nun mußte es schnell gehen.
Ein Blick noch durch das herunter gekommene Zimmer, dann gingen sie hinaus
in den dunklen Flur. die Treppen hinab stolperten sie mehr, als sie gingen.
Elayn hatte weiche Knie, sagte aber nichts zu den andern. Es war wie damals
in der Schule. Sie erinnerte sich. Feueralarm! Die Lehrerin hatte sie
in Zweierreihe an der Tür des Klassenzimmers antreten lassen und
hatte sie dann die Breite Steintreppe hinab auf den Pausenhof geführt.
Es war nur ein Probealarm gewesen, aber sie hatte das nicht gewußt.
Das rhythmische rrring - - - rrring - - - rrring der Schulglocke, die
ganze Situation hatte ihr weiche Knie gemacht und sie hatte geglaubt,
sie werde vor Angst das untere Ende der Treppe niemals erreichen.
Durch die schmutzigen Fenster im Treppenhaus fiel kaum Licht. Niemand
hatte sie je geputzt. Das Haus stand seit langem leer, bis auf die Wohnung,
die Yorkas Freunde eingerichtet hatten.
Sie rannten über den Hinterhof und verschwanden in einem Schuppen.
Ein leistungsstarkes Fahrzeug stand dort. Ein Ding wie es die Armee benutzte,
das auch abseits befestigter Straßen fahren konnte. Es war vollgestopft
mit lebensnotwendigen Ausrüstungsgegenständen. Jeder freie Raum
war genutzt. "Wir müssen uns auf Nebenstraßen halten,
soweit das möglich ist", erläuterte Yorka. "Wenn uns
jemand mit diesen Vorräten sieht, werden wir angehalten und ausgeplündert.
Ich hoffe, Stockmar hat das bedacht. Wenn er mit dem großen Laster
zu uns stößt, sind wir noch langsamer. Hoffentlich reicht die
Zeit."
"Ich dachte, Zeit hätten wir genug. Hast du nicht gestern abend
etwas derartiges gesagt?"
"Odeen, wir wissen nicht genau, wann die Militärs es für
notwendig erachten, die Kampfhandlungen nuklear eskalieren zu lassen.
So heißt das doch wohl in der Fachsprache der..."
"Hört auf!", sagte Yorkas Frau mit gepresster Stimme. "Es
ist schon schlimm genug."
"Uns hat doch niemand gesehen, als wir über den Hof rannten?"
"Nein. Das Haus steht wirklich leer. Und die Nachbarhäuser haben
nach hinten nur Flurfenster. Außerdem glaube ich nicht, dass sich
dort noch Leute aufhalten."
"Glaubst du, alle verlassen die Stadt?"
"Einige Hunderttausend werden es versuchen. Versucht haben."
"Los jetzt, steigt schon ein!", drängelte Yorkas Frau.
Yorka rollte ein großes Tor zur Seite, das hinaus auf eine kleine
Gasse führte, die im Dämmerlicht des regnerischen Morgens düster
wirkte, eng, naß und kalt. Yorka schaute nach links, nach rechts.
"Niemand zu sehen!", rief er und Odeen startete den Motor, ließ
das Fahrzeug aus dem Schuppen rollen. Yorka stieg hinten ein, setzte sich
zu Gioia, seiner Frau.
"Du sollst nich' in den Himmel und nich' zurück auf die Stadt
schau'n", brummte Yorka seiner Frau zu. "Stockmar meinte, wir
sollten das auf keinen Fall tun, wenn uns unser Augenlicht lieb sei."
"Aber es passiert doch gar nichts im Augenblick", entgegnete
Gioia. "Ich bin eben neugierig."
"Wir sind unterwegs, also kann es jeden Augenblick passieren. Danke
Gott und Stockmar, daß wir aus der Stadt herausgekommen sind.
Vor ihnen brummte Stockmars Laster auf dem engen Weg den Berg hinauf.
Kurve um Kurve kroch er höher, bis das Kühlwasser kochte. Der
Laster wurde langsamer und langsamer. Stockmar fluchte. Die beiden jungen
Mädchen neben ihm schauten sich ängstlich an...
Der Motor stotterte. Fehlzündungen knallten. Das schwere Gefährt
schob sich über eine Kuppe und rollte im Schutz eines Felsvorsprungs
aus. Odeen lenkte sein Fahrzeug dahinter und hielt.
Eine Felsnadel verdeckte die Sicht zum breiten Stromtal, aus dem sie herauf
gefahren waren. Doch man musste nur wenige Schritte gehen, damit man weit
in die Ebene schauen konnte, den bewaldeten Hang hinab, über dunstig
mattes Grün. Elayn erinnerte sich, wie sie noch vor wenigen Wochen
ihren Urlaub auf dem großen Strom verbracht hatte. Sie war mit einem
Flußdampfer von Cëide bis hinunter zu Hauptstadt gefahren.
Niemand hatte damals an solch eine Situation wie jetzt auch nur gedacht.
Die Männer standen auf der Stoßstange und beugten sich über
die geöffnete Motorhaube des alten Lasters. Yorkas Frau reichte ihnen
die Werkzeuge.
Elayn setzte sich an die Straßenböschung, begann die Szenerie
in ihr Tagebuch zu schreiben. Die Tür des Lasters knallte zu und
eines der Mädchen, die mit Stockmar gekommen waren, schlenderte auf
sie zu. "Was tust du?"
"Ich versuche, ein wenig meine Gedanken zu ordnen:"
Elayn schrieb in ihr Buch: 'Die Lage war ja seit Wochen äußerst
angespannt gewesen. Aber ich glaubte, alles ignorieren zu können
und trat meinen Urlaub an...'
Die Musik im Radio hörte plötzlich auf. Die Männer hoben
die Köpfe. Stille.
War das der Augenblick? Elayn schaute auf ihre Uhr. '16.05 Uhr', schrieb
sie in ihr Buch. Ihre Beine begannen zu zittern. Sie hatten es alle erwartet.
Der Radiomoderator sprach es aus. Elayn ließ ihren Schreiber aus
der vor Schreck starren Hand gleiten.
'16.15 Uhr. Überall ist es verdächtig still, so als liege ein
Schatten über dem Land. Im Radio liest der Sprecher Nachrichten,
erzählt etwas von Truppenbewegungen und Flugzeugen...'
"Ich habe Angst", sagte Elayn zu dem Mädchen, das sich
neben sie an die Böschung gesetzt hatte. "Ich auch"
Elayn begann wieder zu schreiben. 'Seit den Nachrichten gibt es kein Programm
mehr. Sie sagten, man solle das Radiogerät eingeschaltet lassen.
Aber sie senden nichts. Nicht einmal ein Pausenzeichen. Wir können
nicht wirklich feststellen, was los ist. Ich habe nur Vorstellungen.
"Was machst du, Elayn?", rief Odeen herüber.
"Ich schreibe. Das beruhigt die Nerven. Kommt ihr voran?"
'16.30 Uhr Nichts passiert bisher. Die Männer reparieren weiter am
Laster. Sie glauben, daß sie ihn nochmal hinkriegen.'
'17 Uhr. Die Stimmung ist gedrückt. Ich habe schlimme Ahnungen und
ich fürchte mich. Ich weiß nicht, was ich tun soll.'
17.10 Uhr, Im Radio spricht eine Stimme: von weit weg. Sie sagt etwas
von Flugobjekten. Im selben Augenblick können wir sie hören
- ein dumpfes Grollen - aber nicht sehen. Sie fliegen sehr hoch, weit
weg...'
'17.19. Es ist 17.19 Uhr. Meine Uhr, sie zeigt 17 Uhr und 19 Minuten.
Der Wald am Hang gegenüber brennt. Meine Ohren dröhnen. Es weht
immer noch ein starker Wind... Ich hörte nur jemand schreien: "Nicht
in den Himmel schauen!" Instinktiv muss ich meine Augen bedeckt haben.
Was geschah, war weit entfernt, über der Hauptstadt. Aber wir konnten
es sehen und hören. Und wir mußten es fühlen...'
'Wie die Schatten von schwarzen Flügeln kommt die Nacht, von der
ich nicht weiß, wie ich sie verbringen werde.'
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