Kollaborateur

 

R. Hugh

 

 

"Du musst noch", sagte Lisa, "deinen Hamster füttern. Das arme Tier verhungert bald in seinem Käfig." Sie hielt ihren Mann zurück, der gerade die Wohnung verlassen wollte.
Gerd Oldrich befreite sich, etwas verärgert, aus ihrem Griff. "Womit denn, wenn wir kaum genug für uns selbst zu essen auftreiben können. Der Mais auf den Feldern ist noch nicht reif und das andere Getreide wurde direkt vom Feld auf Militärlaster der Besatzer verladen..., sagt der Verwalter. Er meint allerdings, sie taten das mehr für sich selbst als wegen der gerechten Verteilung, die sie behaupten zu gewährleisten. Er habe jedenfalls Schwierigkeiten, sagt er, genügend Lebensmittel für die Internatsschüler aufzutreiben." Gerd wandte sich wieder der Tür zu.
"Und der Hamster?", fragte Lisa.
"Gib ihm doch einen Kanten hartes Brot, falls wir so etwas in der Küche haben."
"Hart nicht", gab Lisa zurück, "Brot schon." Doch Gerd war bereits zur Tür hinaus, rannte die Treppe hinunter. Er schaute auf seine Armbanduhr. Gleich 17 Uhr, sah er und beeilte sich. Er bemerkte kaum, dass ihn einige seiner Schüler grüßten, die in der Halle vor der Bibliothek und der Kapelle herumstanden, ihrem üblichen Treffpunkt, wenn sie nichts zu tun hatten. Einige fragten sich, wohin ihr Biologielehrer so eilig unterwegs war.
Gerd hatte sich mit seiner alten Freundin Jennifer verabredet. Jahrelang hatte er nichts von ihr gehört, eigentlich seit seiner Heirat mit Lisa. Und dann hatte sie ihn vor ein paar Tagen angerufen, hatte gesagt, dass es wichtig sei und dass er doch pünktlich sein solle.. Als er über den Schulplatz ging, war weit und breit nichts von Jennifer zu sehen. Hatte er sie richtig verstanden? Sie wolle genau gegenüber des Internatsgeländes in einem Auto auf ihn warten. Hinter der Abschrankung stand aber nur eines jener Automobile, wie sie die Besatzer fuhren. 'Nur für den zivilen Gebrauch', stand auf den Türen, in kleinen schwarzen Buchstaben. Gerd hatte diese Art Fahrzeuge, große flache Straßenkreuzer mit getönten Scheiben, schon oft gesehen... und in genau diesem Fahrzeug wartete Jennifer auf ihn. Als er an dem Auto vorübergehen wollte, öffnete sich die Beifahrertüre und Jennifers Stimme befahl aus dem Innern: "Steig ein!"
Gerd war zu verdutzt, um fragen zu stellen, und tat einfach, was Jennifer sagte.
Er hatte kaum die Tür ins Schloss fallen lassen, als Jennifer schon losfuhr. Lange Zeit sprach sie nichts. Während es draußen immer dunkler wurde, schien Jennifer nach einem kurzen "Hallo" und "wie geht's?" eine schweigsame Landpartie machen zu wollen. Sie war aus der Stadt hinausgefahren und nach einer Weile von der Hauptstraße abgebogen. Nun lenkte sie das Fahrzeug über eine holprige Landstraße. Gerd kannte den Weg. Er führte zu einem kleinen Dorf, das ihm aus seiner früheren gemeinsamen Zeit mit Jennifer wohl bekannt war. Und er fragte sich, was sie hier wollte, als sie den Wagen mitten im Dorf anhielt und den Motor abstellte.
"Je weniger du weißt, desto besser", war der erste Satz, den sie sagte. Gerd drehte den Kopf und starrte ihre Silhouette an, die sich gegen das Dämmerlicht draußen abzeichnete. "Um was geht es überhaupt?", fragte er. "Du fährst hier kilometerweit mit mir über Land, obwohl du weißt, dass bald Sperrstunde ist..."
"Hast du Hunger?", unterbrach sie ihn, anstatt ihm eine Antwort zu geben.
"Ja", antwortete Gerd zögerlich. "Und um mich das zu fragen, hast du mich weit aufs Land kutschiert? Beinahe jeder hat Hunger. Du nicht?"
"Liebst du mich noch?", fragte Jennifer weiter, ohne auf Gerd einzugehen. "Magst du mich noch so sehr, dass du mit mir ein wenig 'verliebt' spielen kannst? Überzeugend..."
"Jj...ja, schon", stammelte Gerd. "Wozu?"
"Weil wir genau das machen werden. Jetzt. Bald." Sie startete den Motor. "Ja. Auch wir haben Hunger", beantwortete sie dann unvermittelt seine vorige Frage. Sie gab nur wenig Gas und lenkte das Auto langsam ans Dorfende, wo von der Straße ein unscheinbarer, aber doch mit einer Asphaltschicht ausgebauter Weg abzweigte.
"Sie hat 'wir' gesagt", dachte Gerd, als Jennifer in diesen Weg einbog. "Es geht hier zu einem alten Steinbruch",. erklärte sie.
"Weiß ich", meinte Gerd, der sich daran erinnerte, hier schon selbst entlang gefahren zu sein. Früher einmal.
"Aber was du nicht weißt: die Besatzer haben dort ein Lager eingerichtet. Ein paar Baracken mit einem Zaun drum herum. Sie lagern dort Lebensmittel und sogenannte zivile Ausrüstung. Nur zwei Wachposten...." Und nach einer Weile: "Die fühlen sich immer noch sehr sicher.
Alle zwei drei Tage kommt ein Laster mit Nachschub, der aber von den Fahrern erst am Tag darauf entladen wird. Irgendwie geht das mit ihrem Dienstplan und den Fahrzeiten so auf, dass sie immer am Abend ankommen. Die sind jetzt noch nicht lange dort." Langsam steuert sie den von Hecken gesäumten Weg entlang, die sich schwarz vor den mittlerweile dunklen Abendhimmel schoben.
"Sie übernachten immer im Lager, in irgendeiner der Baracken, sitzen zuvor aber mit den Wachtposten zusammen, spielen Karten. Vier Leute also.
Wir klauen den Laster. Fast alles, was wir zum Essen brauchen, müssen wir uns auf diese Weise zusammenhamstern, unsere gesamte Verpflegung und Ausrüstung. Der Wagen hier ist auch geklaut."
"Aber..." Gerd wollte erwidern, dass er dafür nicht der richtige Mann sei. Und er wollte fragen, wer denn 'wir' sei. Aber das brauchte er eigentlich nicht zu fragen...
Sein Herz schlug bis zum Hals, als er sich vorstellte, wie er durch das Lager schlich, an einem hell erleuchteten Fenster der Wachstube vorbei...
"Wir zwei haben damit nicht viel zu tun, Gerd. Beruhige dich", meinte Jennifer, die ihm wohl seine innere Unruhe am Atmen anmerkte. "Wir sind nur das Ablenkungsmanöver. Du brauchst mir nur um den Hals zu hängen und ein bisschen rumzuknutschen, das ist alles. Das Reden überlässt du mir. Sprich um Himmels willen kein Wort Deutsch, egal was passiert. Klar.?"
Gerd nickte- "Ja", sagte er leise. Er schluckte trocken und versuchte seinen aufgeregten Herzschlag zu beruhigen. In was zog Jennifer ihn da hinein. Und warum ich? "Ich hätte nicht gedacht, dass..."
"Was?!"
"Ich weiß nicht recht. Du..., du...sprichst so militärisch. So ganz anders, als ich dich in Erinnerung habe, Jenny. Und dann hast du mich in diesem Auto... Du warst dir ganz sicher, dass ich..."
"Ja. Eigentlich schon, Gerd."
"Und warum gerade ich?"
Jennifer lachte glucksend in sich hinein. "Weil", sagte sie, "weil ich mich, als wir diese Aktion planten, daran erinnerte, dass wir zwei einmal nachts ins Jugendzentrum eingestiegen sind. Erinnerst du dich? Das war, als wir zum erstenmal miteinander schlafen wollten, und nicht wussten, wohin."
"Mein Gott", sagte Gerd. "Das ist fünfzehn Jahre her, mindestens."
"Siebzehn", erwiderte Jennifer. Sie kurbelte am Lenkrad und fuhr den Wagen eine steile Rampe hinauf, die einem engen Einschnitt durch den Schüttwall folgend in den Kessel des Steinbruchs hinein führte. "Wir sind da", sagte Jennifer. "Und denk dran, was auch passiert, kein Wort Deutsch."
Sie schaute auf ihre Armbanduhr, während der Wagen ganz langsam auf das Lager zu rollte. "So. Wir fahren jetzt absichtlich ein wenig gegen den Zaun", sagte sie und wendete den großen Wagen in einem weiten Halbkreis vor dem Tor des Lagers. Dann setzte langsam auf einen der wenigen gepflasterten Parkplätze zurück, die vor dem Zaun angelegt worden waren. "Wetten, die beobachten uns bereits und fragen sich, was wir hier wollen" sagte sie mit gedämpfter Stimme.
"So!" Im selben Augenblick, als die Stoßstange des Wagens gegen den Metallzaun drückte, flammten über dem Lager starke Lampen auf und irgendwo schellte eine Klingel, die aber sofort wieder abgestellt wurde.
Jenny griff zu Gerd hinüber, zog ihn zu sich her und kuschelte sich eng gegen ihn. "Es geht bereits los", flüsterte sie. "Los, küss mich!" Gerd tat, wie ihm geheißen...
Die Tür wurde aufgerissen und der starke Lichtstrahl einer Stablampe blendete sie. Eine Stimme herrschte sie an, was sie hier zu suchen hätten. Jennifer hatte sich aufgerichtet und starrte blinzelnd ins Licht. Gerd saß in dem Schatten, den ihr Körper warf,
"Wir suchen nur einen hübschen, stillen Platz, um ein bisschen Liebe zu machen", antwortete Jenny mit piepsiger Stimme, aber perfekt in Aussprache und Wortwahl der Besatzer. Der Lichtstrahl wanderte durch den Wagen und blieb an Gerd hängen.
"Papiere", verlangte die Soldatenstimme. Und Gerd dachte, dass er von Anfang an gewusst hatte, dass das nicht gut gehen würde. Man konnte doch nicht so ohne weiteres an einem... Er wurde gewahr, dass vor dem Wagen ein weiterer Soldat stand, der mit angelegter Maschinenpistole sicherte.
Jennifer kam der Aufforderung nach, griff über ihn hinweg ins Handschuhfach, kramte eine Weile nach einer Brieftasche, sodass Gerd schon versucht war, ihr zu sagen, sie solle mit dem Theater aufhören. Seine Nerven waren aufs äußerste angespannt. Doch zu seiner Überraschung hielt Jennifer dem Soldaten plötzlich zwei Ausweise hin. Der Lichtstrahl zuckte zwischen den Papieren und ihren Gesichtern hin und her. Dann salutierte der Wachsoldat. Er entschuldigte sich zwar nicht mit Worten, nannte aber respektvoll ihre angeblichen militärischen Ränge. Jennifer nahm, nun die Ruhe selbst, die Papiere zurück.
"Ich möchte Sie bitten, ihre privaten Stunden woanders zu verbringen", sagte der Soldat höflich aber bestimmt. "Wir haben Befehl, während der Nachtstunden niemand Unbefugten in der Umgebung des Lagers zu dulden. Und da sie dienstfrei haben..."
"Schon gut", gab Jennifer zurück. Ihre Stimme klang befehlsgewohnt. Sie machte Anstalten, die Tür des Wagens zu schließen und der Wachsoldat trat auch wirklich einen Schritt beiseite. Jenny schlug die Tür zu und startete den Motor. "Ich möchte wirklich gerne wissen...", murmelte sie und warf beim Anfahren einen Blick in Richtung der Baracken, die schemenhaft hinter Zaun und grellem Licht zu erkennen waren. "Bis jetzt hat alles wunderbar geklappt. Jetzt müsste eigentlich...", sagte sie mit einem Blick in den Rückspiegel, und dann: "Ah ja!" Sie gab Gas.
Auch Gerd schaute zurück und sah zwei Augen aufgeblendeter Lastwagenscheinwerfer auf die verdutzten Wachsoldaten zufahren, die sich immer noch außerhalb des Tores befanden. Sie hatten ihre Abfahrt überwacht und nicht darauf geachtet, was sich in ihrem Rücken innerhalb des Lagers tat. Bevor Jennifer den Wagen in den Einschnitt zwischen den Schuttwällen lenkte, sah Gerd noch, wie die Soldaten sich durch einen Sprung in Sicherheit brachten. Dann glaubte er, Schüsse zu hören, war sich dessen aber nicht sicher.
Sobald sie die Rampe verlassen und den Asphaltweg erreicht hatten, lenkte Jennifer ihren Wagen über eine kleine Böschung in die Wiese. Gerd holte sich dabei eine Beule, weil er darauf nicht gefasst war. "Was?"
"Kein Wort Deutsch! Wir sind noch nicht fertig. Los, raus! Schieben!"
Hinter ihnen donnerte der Laster in Richtung Dorf vorbei.
Gerd zitterten die Knie, aber gehorsam stieg er aus und unterstützte Jennifers Bemühungen, die den Rückwärtsgang eingelegt hatte und kräftig Gas gab, den Wagen wieder zurück auf den Weg zu kriegen. Gerade als sie mit dem Heck des Wagens schräg auf den Weg zurück rollten, kam ein Jeep angerast, bremste mit quietschenden reifen.
"Aus dem Weg!", brüllte ein Soldat und fuchtelte wild mit dem arm. Mit einer Hand hielt er sich an der Windschutzscheibe fest, hinter der er aufgestanden war. Sein Fahrer ließ den Motor des Jeeps aufheulen und den Jeep ruckelnd und drängelnd gegen Jennifers Wagen vorrücken, die immer noch versuchte, rückwärts wieder über die Böschung nach oben zu kommen. Dann beugte sich Jenny aus dem geöffneten Fenster der Fahrerseite und schrie zurück, dass ein Laster sie von der Straße gedrängt habe.
"Aus dem Weg!", brüllte der Soldat erneut. Aber sein Fahrer gab einfach Gas bevor Jennifer reagierte und steuerte den Jeep auf der anderen Wegseite durch den dortigen Graben und an einer Hecke entlangschrammend an ihnen vorbei. Der andere Soldat konnte sich wegen der plötzlichen Beschleunigung und des Geschaukels nicht an der Windschutzscheibe festhalten und plumpste wie ein nasser Sack auf den Beifahrersitz. Gerd konnte ihn fluchen hören.
Jenny setzte den Wagen vollends zurück und winkte Gerd, der dem Jeep nachstarrte, einzusteigen. Sie lachte. "Das hätten wir", meinte sie. "Jetzt darf er sich nur nicht erwischen lassen. Hoffentlich reicht sein Vorsprung."
"Das war einer von Euch da im Laster?", fragte Gerd.
"Dümmer kannst du ja wohl nicht fragen... Er ist in dem Augenblick über den Zaun, als wir dagegen fuhren. Und wie man diese Besatzer-Trucks knackt, das hat er wochenlang geübt...Ich fürchte nur, wir konnten den Jeep nicht lange genug aufhalten, Ganz schön ehrgeizig, durch den Graben zu fahren und sich vorbei zu quetschen."
"Wenn ich das Lisa erzähle, die wird glauben..."
"Du wirst es ihr auch nicht erzählen. Wenn sie nichts weiß...Du musst ihr ja nicht unbedingt einen Grund liefern, anzunehmen, dass du und ich... ich hoffe, du machst mir jetzt nicht nachträglich noch Schwierigkeiten, Gerd. Die anderen meinten sowieso, es sei ein zu großes Risiko, einen Uneingeweihten mit in die vorderste Linie zu nehmen. Aber so hatte die Gruppe eben nur halbes Risiko. Wenn sich einer der Wachsoldaten an unsere Gesichter erinnern sollte, können sie unsere Gruppe allenfalls über mein Gesicht identifizieren..."
Kurze Zeit später hielt Jennifer den Wagen an. Sie befanden sich im nächsten Dorf an einer Straßenkreuzung. Ein Omnibus parkte vor einer Gastwirtschaft, die aber trotz kurz bevorstehender Sperrstunde gut besucht zu sein schien. Jenny stellte das Auto so hinter dem Bus ab, dass es von der Straße aus nicht zu sehen war. Dann stieg sie aus und ging auf die Scheuer zu, die neben dem Gasthaus stand.
Gerd erinnerte sich, dass er in früheren Zeiten den Bus schon oft in der Scheuer geparkt gesehen hatte, wenn er auf Spazierfahrten durch dieses Dorf gekommen war. Er hatte sich immer gefragt, ob der Wirt des alten Gasthauses im Hauptberuf Busfahrer sei, denn eigentlich gehörte der Bus einer Firma in der Stadt. Aber da Gerd in dieser Gaststätte nie eingekehrt war, hatte er das nie in Erfahrung gebracht.
Jemand öffnete den Kofferraum und Gerd drehte den Kopf nach hinten, um zu schauen, was in seinem Rücken passierte. Aber er konnte nur hören, wie igendwelche Gegenstände in den Kofferraum gestapelt wurden. Sehen konnte er nichts. Dazu war es zu dunkel und zusätzlich versperrte der hochgeklappte Kofferraumdeckel jegliche Sicht. Da der Platz zwischen Bus und Scheune lediglich durch die erleuchteten Fenster der nach vorn gelegenen Gaststätte erhellt wurde, konnte Gerd auch die Scheuer nur schemenhaft erkennen. Und nur ein etwas dunklerer Fleck im großen Scheunentor ließ vermuten , dass dort eine kleinere Tür geöffnet war. Als schwarze Gestalten verließen einige Leute diese Tür und kamen erneut auf den Wagen zu. Sie trugen Pakete, die sie ebenfalls in den Kofferraum luden. Gerd hörte Stimmen murmeln, konnte aber nichts verstehen, bis eine Männerstimme etwas näher sagte: "Gut, dann fahr' ihn jetzt nach Hause. Aber beeile dich. Die Sperrzeit beginnt in einer viertel Stunde."
Gerd bekam einen Schreck. Sperrzeit. Sie durften sich wirklich nicht erwischen lassen.
"Wir haben doch die Pässe", hörte er da Jennifer sagen. Und immerhin ist das ein Besatzerwagen, wenn auch ein ziviler. Wir kommen schon durch."
Jenny hatte ihm die Fresspakete einfach auf die ausgestreckten Arme gestapelt - Konservendosen zu sechs in einem Karton, und Einsatzverpflegung der Truppe - bis er gerufen hatte: "Genug, mehr kann ich nicht tragen!" Da hatte sie die Kofferraumklappe wieder zugeschlagen und war "denk daran, kein Wort zu niemandem..." davongefahren.
Und jetzt im Vorraum der Bibliothek und zur Kapelle stand er am Fuß der Treppe, die hinauf führte zu den Lehrerwohnungen, und konnte nicht mehr. Er stapelte die Kartons auf der untersten Treppenstufe und ging zurück zum Eingang, um nach Lisa zu klingeln.
Einige Schüler standen herum, tuschelten und schauten neugierig, was der Biologielehrer Oldrich da mitgebracht hatte. Gerd beachtete sie kaum, als er zu seinem Paketestapel zurückging, darauf wartete, dass Lisa herunterkam und ihm half, die Verpflegung in die Wohnung zu schaffen.
"Sieh an, sieh an, der Herr Oldrich hat Fresspakete von den Besatzern bekommen." Eine Gruppe der ältesten Schüler kam aus der ersten Etage herunter, in der sich neben der Wohnung des Direktors auch ein Aufenthaltsraum für die Schüler befand, wo sie Billard spielen oder fernsehen konnten. "Was haben sie gerade in den Nachrichten gesagt, Jungs?" Der Wortführer schaute sich nach den Jungs seiner Gang um. Gerd hörte von ganz oben die schnellen Schritte Lisas klappern. "Widerstandskämpfer wurden gefasst und die Leute, die die berühmten 'Hinweise aus der Bevölkerung' gaben, wurden mit Fressalien entlohnt. War's nicht so? Haben sie das nicht verlautblaht?" Er formte aus Daumen, Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand einen Entenschnabel, den er auf- und zuklappte, während er sich Zustimmung heischend nach seinen Mitschülern umdrehte.
Gerd wusste gar nicht, wovon die Schüler redeten. Aber ihm dämmerte ganz leise, dass die Situation eine gewisse Spannung barg.
"Hilfst du mir mal, Lisa", sagte er zu seiner die Treppe herunter kommenden Frau, um die Spannung zu überspielen. Dabei beugte er sich hinunter, um die Pakete hochzuheben.
"Ja komm nur, hilf deinem verräterischen Gatten!", rief eine jüngere Stimme von hinten. Und eine andere fragte: "Fickt er dich auch so gut wie die Besatzer-Hure, die ihn hergebracht hat?"
Gerd warf den Kopf hoch: "Wer war das?!", fragte er, starrte aber nur in aufgerissene Augenpaare und stumme Gesichter. Niemand sagte ein Wort. Lisa drängte sich durch die Gruppe, die die Treppe oberhalb der Pakete besetzt hielt. "Lasst mich doch mal durch", sagte sie mit angespannter Stimme. Erste Anzeichen von Furcht?
Aber die Schüler formten ohne weiteres eine Gasse und ließen sie vorbei. Dann versperrte sie aber wieder den Weg nach oben
"Kollaborateur!", rief die gleiche Stimme, die zuvor von der Besatzer-Hure gesprochen hatte. "Kollaborateur!" Und dann schrien sie alle durcheinander.
"Der Oldrich ist ein Kollaborateur. Er hat Widerstandskämpfer verraten. Fressalien gekriegt... und was für gute Sachen... Wir hungern!... Verräter!.... Wand gestellt... Alte gleich dazu..."
Als Gerd die Pakete aufnehmen wollte, stieß einer der Schüler von oben den Stapel um: "Nur wer mit den Besatzern zusammenarbeitet , kriegt soviel Fressie-Fressie."
"Mensch gib mal her...", sagte ein anderer Schüler und riss Gerd Oldrich das einzige Päckchen aus der Hand, das dieser hatte aufheben können. "Schau dir das an...."
"Ja, fragt ihn, wo er das her hat, das Schwein?" Ein Gerangel und ein Streit hatte um Lisa und Gerd Oldrich herum begonnen. Es schien einige Schüler zu geben, die sich auf ihre Seite stellten. Gerd versucht Lisa ein Zeichen zu geben, hob dann einen weiteren Karton auf und begann die Treppe hinaufzusteigen.
"Der haut ab!", hörte er sofort einen Ruf. Unsanft wurde er nach hinten gezogen und wäre gestürzt, wenn da nicht soviele Schüler gestanden wären. "Wenn er abhauen will, sperrt ihn doch ein!"
"Seid ihr verrückt?!" Der Hausmeister kam angelaufen. Gerd der vor lauter Überraschung bisher noch kein Wort herausgebracht hatte, wollte schon aufatmen und nahm Lisa bei der Hand. Lisas Gegenwehr, die sie mit kleinen Schreien und "Seid ihr verrückt?", "Hört auf!", "Loslassen!", "Weg da!" begleitet hatte, erlahmte.
"Nehmt den da auch gleich mit!", schrie die schrille Jungenstimme, die aus dem Hintergrund Befehle gab.
Gerd wunderte sich, wie die Schülerzahl in dem Vorraum so schnell angewachsen war. Die gesamte Halle war ein einziges Gewimmel aus Schülern aller Altersstufen. Er wurde gestoßen uns stolperte. Lisa musste seine Hand loslassen, wurde von ihm getrennt. Man drängte sie alle quer durch die Halle, ihn, einen jungen Erzieher, der anscheinend beschwichtigend einzugreifen versucht hatte, Lisa, den Hausmeister und auch einige Schüler, die sich anscheinend auf ihre Seite gestellt hatten... Schreie, Protestrufe... Das ging alles so schnell, das Gerd gar nicht zum Nachdenken kam, was hier eigentlich vor sich ging, was mit ihm passierte.
"Was hat man denn früher mit Kollaborateuren gemacht?", fragte einer der älteren Schüler. Die frage schien rhetorisch gedacht, wurde aber dennoch aus dem Hintergrund beantwortet: "Man hat sie liquidiert!"
"Richtig!"
Die Tür der Kapelle schlug laut hinter ihnen zu. Der Knall hallte etwas in dem fast kahlen, nüchternen, hohen Raum. Jemand spielte Orgel, oben auf der kleinen Empore. Vermutlich einer der Schüler. Er ließ sich weder vom Türenschlagen noch vom Gejohle seiner Mitschüler im Vorraum stören.
Der Hausmeister versuchte sich an der Türe. Die Klinke ließ sich zwar hinabdrücken, doch die Tür gab nicht nach. "Abgeschlossen", stellte er lakonisch fest. Sie blickten sich betreten und stumm an. Elf Leute, mit ihm selbst zwölf, stellte Gerd fest, nein, dreizehn mit dem Orgelspieler. Er schien sie immer noch nicht bemerkt zu haben, denn er hatte sein Spiel nicht unterbrochen.
"Das ist doch lächerlich", meinte der junge Heimerzieher nach einer Weile.
"Was ist denn eigentlich los", fragte Gerd in die Runde blickend, "sind die den alle verrückt geworden?"
"Sie sind gut, Herr Oldrich", sagte einer der Schüler vorwurfsvoll, als könne er gar nicht verstehen, wie man so unschuldig naiv diese Frage stellen konnte. Und Gerd schaute ihn und die anderen tatsächlich fragend an.
"In den Nachrichten", erläuterte Lisa, die die Situation zu überblicken schien, "in den Nachrichten haben sie berichtet, dass eine Gruppe von Partisanen aufgeflogen ist., Die Besatzer haben die Leute, die angeblich den Tip gaben, mit Sonderrationen belohnt. Und das hat man in den Nachrichten schön breit getreten, weil sie hoffen, so noch weitere Tips zu erhalten."
"Und dann kommen sie mit Verpflegungskartons an. Mann das war echt schlau", fügte einer der Schüler hinzu. "Wo sind die den her?"
Gerd schaute stumm von einem zum andern und meinte zu verspüren, wie sie auch in dieser kleinen Gruppe unmerklich von ihm abzurücken versuchten.
"Das darf ich nicht sagen, die sind geklaut", meinte er kleinlaut.
Der Riegel an der Tür wurde zurückgeschoben und ein Schlüssel gedreht. Sie alle dachten, der Spuk habe jetzt ein Ende. Es ging zwar die Klinke nach unten, nicht aber die Tür auf. Von draußen waren leise Stimmen zu vernehmen, Wispernd, wie lautes Flüstern. Dann wurde die Tür doch aufgestoßen und mehrere Gegenstände flogen in den Raum, zerplatzen klirrend zwischen den Stuhlreihen auf den Steinfliesen.
"... gehören ausgeräuchert", hörte Gerd noch, dann wurde die Tür zugeschlagen und wieder abgeschlossen. "Die sind verrückt", schrie Lisa. "Schnell, erstickt die Flammen!" Sie nahmen ihre Jacken und schlugen auf die Flammen ein, die sich über Pfützen einer brennbaren Flüssigkeit zwischen den Scherben zerborstener Flaschen gebildet hatten.
Der Junge oben an der Orgel, er spielte weiter, als sei nichts geschehen. Hatte er wirklich nichts bemerkt? Gerd schien das ziemlich unglaublich. Da draußen schrien seine Schulkameraden, grölten unverständliche Parolen, hämmerten gegen die Türe.... und der Junge übte Choräle. "He, Du da oben!", rief er.
Fenster klirrten und weitere Benzinflaschen flogen in die Kapelle, zerplatzten und setzten die großen schweren Vorhänge in Brand. Gerd begann wie die anderen zu husten. Der Rauch wurde dichter, der Sauerstoff knapper. "Die versuchen uns umzubringen", sagte er und suchte mit erhobener Hand die sich entwickelnde Hitze von seinem Gesicht abzuhalten. "Wir müssen hier raus!"
"Aber wie?"
"Durch den Verschlag!" schrie der Hausmeister gegen das Prasseln der Flammen an und riß die Tür zu einem durch Holzwände von der Kapelle abgetrennten Raum unter der Orgelempore auf. Er war voller Stühle, die man bei Veranstaltungen des Internats zusätzlich aufzustellen pflegte, wenn die Schulleitung auch Gäste von außerhalb erwartete.
"Wo soll's da raus gehen?"
"Erst mal rein. Da ist die Luft noch in Ordnung."
Sie drängten in den Raum.
"Da, unter den Stühlen ist eine Falltüre", sagte der Hausmeister.
"Und die führt in den Gang hinunter, in dem wir unsere Koffer aufbewahren", fügte einer der Schüler hinzu und begann Stühle zu rücken.
Gerd, der selbst einmal Schüler an diesem Internat gewesen war, erinnerte sich dunkel an einen langen, unterirdischen Gang, schwach beleuchtet, links und rechts Betonwände, an denen oben Versorgungsleitungen entlang liefen, darunter lange Regalreihen, in denen die Internatsschüler ihre Koffer verstauten.
Sie halfen alle beim Stühlerücken und versuchten, sich zu der Stelle vorzukämpfen, die der Hausmeister bezeichnet hatte, was aber nicht so einfach war, da sie sich gegenseitig behinderten und sie auch nicht wussten, wohin mit den Stühlen in dem doch recht dicht bestückten Raum. Draußen prasselte das Feuer und Rauch und Hitze drangen nun auch in den kleinen Raum.
"Der Orgelspieler!", hörte Gerd jemand sagen. Sie hielten alle inne. Er spielte immer noch. Allerdings nur ein Ton. Der Junge musste über seiner Orgel zusammengebrochen sein.
"Wir holen ihn", sagten zwei Schüler und wühlten sich zurück zur Tür. Aber dort schlugen ihnen Flammen entgegen. Die Holzwand des Verschlages begann zu qualmen, und die Farbe mit der sie gestrichen war, fing an, sich braun zu verfärben. Sie musste jeden Augenblick zu brennen beginnen.
"Ihr wärt doch gar nicht an ihn herangekommen. Man kann doch nur vom ersten Stockwerk aus auf die Empore gelangen, beruhigten die anderen die beiden Schüler, die unter den Stühlestapeln hindurch zurückgerobbt kamen.
Im selben Augenblick, als der Hausmeister schließlich die Falltüre aufriss, begann mit einem leisen Plopp auch die Trennwand zu brennen. Von draußen vernahmen sie die Martinshörner der anrückenden Feuerwehr.
"Los runter", kommandierte der Hausmeister. "Die Frau Oldrich zuerst, dann die Schüler..."
Sie ließen sich einer nach dem andern hinunter in den schwach erleuchteten Gang mit seinen Versorgungsrohren: Wasser, Heizung, Kabel... Nach wenigen Schritten knickte der Gang rechtwinklig ab und verlief quer unter dem Schulgelände hindurch zu den anderen Gebäuden des Internates. Gerd erinnerte sich nun auch an einen weiteren rechtwinkligen Knick weiter vorne, dort wo der Gang im eigentlichen Schulgebäude unter einer Treppe in jenen Flur münden würde, wo sich die Übungsräume für den Instrumentalunterricht und ein Werkraum befanden. Doch an die seitlichen Treppenaufgänge, die vom Gang abzweigten und jeweils in eines der Wohngebäude der Schüler führten, hatte er sich nicht mehr erinnert. Der Hausmeister ließ jedesmal die kleine Gruppe anhalten, ging nach oben. Doch die Türen waren alle - vorschriftsmäßig - verschlossen. Erst beim vorletzten Wohngebäude ließ sich die Tür am Ende der Treppe einen Spalt weit öffnen, jedoch nicht weiter. Etwas Schweres stand davor. Mit vereinten Anstrengungen gelang es ihnen nach einer Weile, die Truhe beiseite zu schieben. Dann drängten sie alle hinaus in den hell erleuchteten Flur des Schülerwohnhauses II der Oberstufe. Türen zu den Zimmern standen offen, aus manchen dudelten Radios, mehrere Programme durcheinander. Aber keiner der Bewohner hielt sich im Haus auf. Auch die Geretteten stürmten auf schnellstem Weg ins Freie...
Gerd wusste nicht, wie es kam, aber plötzlich standen er und Lisa alleine auf dem Weg, der vom Schulgebäude zur Kapelle führte. Sie hielten sich gegenseitig im Arm. "Jetzt wäre Gelegenheit, sich den 'Regenbogen'-Leuten anzuschließen," flüsterte Gerd und musste an Jennifer denken. "Ich bin tot in der Kapelle und niemand weiß, dass ich davongekommen bin."
"ich weiß es", sagte Lisa, "und die, die mit uns raus gekommen sind."
"Ja", meinte er. Er ließ seine Frau los und sagte: "Lisa, wir sollten nach unserer Wohnung schauen."
Sie machten sich auf zu der Menschenmenge, die das brennende Gebäude umstand. Irgendwo wurden Befehle erteilt, blaue Lichter blitzten, silberne Wasserfontänen sprühten gegen das Gebäude, das in seinem rechten Teil hell in Flammen stand. Polizei, aber auch Besatzungssoldaten standen in vorderster Linie bei den Feuerwehrleuten, hielten Menschen davon ab, näher heran zu gehen.
Gerd sah, wie Direktor Helweg und ein Helfer einen Schrank aus dem Haus trugen. Noch schien das Treppenhaus passierbar.
"Darf ich bitte durch", drängte Gerd durch die Absperrung. "Ich möchte meinen Hamster retten. Komm Lisa!" Er reichte seiner Frau die Hand und zog sie an dem Soldaten vorbei, der kein Wort verstanden hatte, auf den Eingang zu.

© 1979/83

product verlag
ernst-walter hug
schwäbisch hall

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