Die Angst auf der Leiter

 

R. Hugh

 

Ihre Finger krallten sich in das Holz der Leitersprossen. Die Knöchel schimmerten weiß durch die Haut. Ihr Herz klopfte. Sie zitterte.
Als ihr linker Fuß die nächste Sprosse erreichte, hielt sie inne. Langsam hob sie den Kopf und schaute zu Antoine hoch.
"Ich habe Angst". sagte sie. Ich stürze ab, dachte sie. Nein, keinen Schritt mache ich mehr. Aber ich muss doch hinunter! Nicht nach oben schauen, nicht nach unten, das macht alles nur noch schlimmer! Ihre Gedanken überstürzten sich. Antoines Gesicht nahm sie nur noch verschwommen war. Sie hatte das Gefühl, als kippe sie nach hinten weg. Sie unterdrückte einen Schrei und schloss die Augen, presste sich ganz eng an die Leiter. Warum musste ich nur mit den andern auf diesen blöden Hochstand?
"Komm, geh weiter, Jeanine", hörte sie leise Antoines Stimme von oben.
"Komm doch, Jeanine!", riefen Sanda und Marc von unten.
"Ich kann nicht", flüsterte sie, leise, nur so vor sich hin. Sie spürte, wie der Wind mit ihrem Kleid spielte. Wenn ich hinunterfalle, bin ich tot. Ich will aber nicht sterben, Ich bin schon tot. Ich darf nicht mehr zittern, und muss noch einen Schritt nach unten machen.
"Nicht, Jeanine!", sagte Antoine von oben. "Warte, ich komme und helfe dir:"
"Nein!", schrie sie ängstlich und presste sich ganz starr und steif noch enger an das Holz der Leitersprossen, als sie Antoines Versuch bemerkte, an ihr vorbei zu kommen. Graue und grüne Nebel. Darin Antoines Gesicht. Sie fuhren zusammen in seinem Auto und hörten Musik: Eight miles high... "Mensch ich finde das so klasse, ich finde dieses Stück so unheimlich toll!"...jetzt!... jetzt gleich würde sie abstürzen. Ein Körper wirbelte an einem brennenden Hochhaus vorbei. Wie hätte sie da nicht hinschauen können, als sie es im Fernsehen gezeigt hatten: Hochhausbrand in Sao Paulo...
"So. Jetzt halte dich ganz fest, bis ich an dir vorbei bin", sagte Antoines Stimme ganz nah. "Versuche an etwas anderes zu denken, Jeanine! Versuch’ es, dann hört das Zittern von selbst auf."
Sie spürte, wie sein Fuß ganz leicht ihren Oberkörper berührte. Die Augen wagte sie nicht mehr zu öffnen. Er drängte sich auf der nicht all zu breiten Leiter an ihr vorbei. Sie fühlte wie sein Körper über ihren Rücken glitt, wie sein Gürtel sich kurz an ihren Haaren verfing - das ziepte – dann die Gürtelschnalle sich an Hals und Schulter drückte...
"Ich falle. Du stößt mich hinunter. Lass es! Bleib! Antoine!"
Antoines Hand legte sich auf die ihre. "Du fällst nicht", sagte er.
"Hatte sie laut geredet?"
Die Hand ließ wieder los und hielt sich dann an ihrer Hüfte fest. So jetzt mache einen Schritt!"
"Ich kann nicht!"
"Doch du kannst. Laß die Augen zu!"
Jeanine zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. "Ich kann nicht!", presste sie mit weinerlicher Stimme hervor.
Antoine kam wieder eine Sprosse hoch und löste sanft eine ihrer Hände, führte sie eine Stufe Tiefer. "Halte dich hier fest. Du kannst nicht fallen. Ich bin hinter dir."
Langsam und zitternd tastete Jeanines linker Fuß nach der tiefer gelegenen Sprosse. Antoines Gesicht im Auto; es lachte. Der wirbelnde Körper auf dem Bildschirm, sie selbst, wie sie die Hände vors Gesicht schlug, weil sie’s nicht ansehen konnte. Ihre Bauchmuskeln krampften sich zusammen. Sie versuchte, ganz tief Luft zu holen und bekam doch kaum etwas in ihre Lunge. Und da war die Sprosse. Die andere Hand, der andere Fuß. Langsam öffnete sie die Augen. "Komm", sagte Antoine hinter ihr. Ihr Herz klopfte und sie spürte ihr Blut im Hals pulsieren. "Jetzt noch eine Stufe." Antoines Hände lagen auf der Sprosse vor ihrem Bauchnabel.
"Stellt euch vor, wir wären in einem Film", hatte Marc vorhin auf dem Hochsitz gesagt und sich fast nicht mehr eingekriegt über diesen Scherz. "Was würde jetzt geschehen?"
"Stopp. Kamera aus!" Rainier der Regisseur. "Jeanine, Antoine, das müsst ihr ganz anders machen, Jeanines Angst muss viel stärker zum Ausdruck kommen. Das drehen wir gleich nochmal."
"Okay!", rief Jeanine, schon wieder auf dem Weg nach oben.
Ihre Finger krallten sich in das Holz der Leitersprossen. Die Knöchel schimmerten weiß durch die Haut... Drehbuch, Seite 78, Szene 108, Jeanine auf der Leiter, Antoine noch auf dem Hochsitz....

© 1974

(product verlag)
ernst-walter hug
schwäbisch hall

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