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Keine Zeit für Melancholie
R. Hugh
Es ist gut, dass dieser Terror ein Ende hat. Ein neuer hat begonnen. Noch erkenne ich ihn nicht, empfinde ihn nicht, begreife nicht seine Gegenwart. Ich bin frei (zu tun und lassen, was ich will).
Du bist fort.
Ich spüre nicht mehr den Drang, aus dem Fenster zu schauen, die Straße abzusuchen, ob du kommst.
Du bist fort.
Und ich? Bin ich leer, tot, verlassen, ausgelöscht? Ich bin frei (zu tun und lassen, was ich will). Wiederholung.
Lachen.
Das Universum ist groß. Wo bist du?
Es wird dein Lachen sein. Doch es interessiert mich nicht. Dies ist eine Absage. Ich habe dich verloren. Der Terror aus Gefühlen um dich, für dich, in mir, zu dir: er ist zu Ende. Ich weiß, du kommst nicht wieder und ich bin nicht einmal traurig. Nur etwas verwirrt.
Du hast eine Leere hinterlassen, ein Leck, durch das ich ausfließe. Verzweifelt (?) versuche ich, es zu stopfen. Merkwürdiger Zustand, mein Sein. Ein Traum ist zerbrochen wie ein Stab aus Glas, nein, zerplatzt wie eine gläserne Blase. Ich sehe noch das Zittern der Palmwedel, die sich darin spiegelten, das Flimmern der heißen, bläulichen Luft. Ich fühle den Hauch deines Atems auf meinem Gesicht (wenn ich die Augen schließe). Doch dies muss eine Absage sein...
Es ist seltsam, wie träge die Gedanken fließen. Bin ich wirklich nicht schon tot? (Träge ist nicht tot; es wird Einsamkeit sein, die ich fühle der neue Terror. Oder?)
Einsamkeit wird sich ausfüllen lassen. Das Starren in eine Kerzenflamme hilft. Beispielsweise. Flammen kämpfen gegen die Kälte. Fremde Orte, fremde Gesichter, fremde Gedanken, sie werden die Leere füllen. (Der neue Terror?)
Aus welcher Richtung, von wo droht Gefahr?
"Du bist schuldig", sagen die Zeilen des Gedichts.
Ich werde verrückt.
Zitternde Ruhe. Gibt es so etwas? Alles entgleitet mir. Irgendwo in mir liegt ein Klumpen aus Denken, der alles andere blockiert. Wenn ich mich davon lösen kann, dann kommt alles in Ordnung
"Du bist schuldig" das Gedicht! "besonders da du viel mehr verstehst, als deinen Kräften erlaubt ist."
Wem gilt dies? Mir? Dir?
Dir, weil du gegangen bist.
Mir, weil ich weiß, warum du gegangen bist.
Du hast das Gedicht gelesen, als du wiederkamst, deine Sachen zu holen. Du hast mich nur angeschaut stumm und bist gegangen. Du hast verstanden. Du hast. Und das nichts anderes hatte ich erhofft. Ob die anderen errieten, was in diesem Augenblick zwischen uns war?
Nichts, genau betrachtet.
Viel, doch selbst uns nicht fassbar.
Dann warst du fort.
Manchmal wünsche ich mir eine Maschine, die Gedanken entschlüsseln kann. Ja, so bin ich. Ich weiß nicht ich weiß vieles nicht ob ich dann glücklicher wäre. Alles wäre dann so klar, dass es nichts mehr zu denken gäbe.
Ich wäre noch leerer. (Geht das: leerer als leer? Ist da also doch noch etwas? Zitternde Ruhe.)
Je mehr ich denke, je mehr ich an Gedanken zu fassen bekomme, um so geringer wird dieses Zittern. Signale werden stärker. Wohin geht dieser Weg.?
Es wird eine lange Reise. Welche Richtung soll ich einschlagen, welche Wege gehn? Fragen die ich in mir spüre, Fragen, deren Antworten in der Düsternis des Morgen liegen. Düsternis aus graugrünen Nebeln. Wie Schleier aus olivgrünen Moosbehängen an Felswänden, die im Schatten liegen. Muss ich mich umwenden, um ins Licht zu schauen?
Ich war frei, zu tun und lassen, was ich wollte. Habe es nicht erkannt. Dann wurde ich in die Freiheit gestoßen.
Das Überleben ist hart. Keine Zeit für Trauer, keine Zeit für Melancholie. Ich muss verstehen lernen, damit es kein Zurück mehr gibt, nur noch Frühling, Sommer, Herbst und Winter, bis mir übel davon wird. Dazu ist man auf der Welt!
Wann fange ich an damit, verstehen zu lernen?
Stricke, Ketten, Du, eine Sperre aus einem Stoff wie nichts, wie Luft, wie Gedanken... Losstürmen, mit einem Schrei auf den Lippen, wie im Traum, lautlos, heftig, verkrampfte Kehle, erhobene Hand: zum Zuschlagen bereit! Ich lasse mir nichts mehr antun! Ich lasse keinen mehr an mich heran! Muss da eine Mauer aus fremden Menschen errichten. Das Universum ist groß. Es gibt da viele.
Stricke, Ketten, Du bist gestrichen, eine Sperre aus Luft und Gedanken aus Nichts. Was hindert mich eigentlich? Was zu tun?
Der Prozess etwas aus sich heraus zu nehmen, ohne zu vergessen, er ist langwierig. Noch fühle ich den Hauch deines Atems. Kühle Nachtluft, die mir ins Gesicht weht. Der Rauch einer Zigarette.
Es kitzelt in der Nase. Ein Niesen. Befreiung. Erleichterung. Die Ketten sind gerissen. Da ist nur noch der Block aus Nichts.
Nichts, was ich mir anders wünschte.
Warum?
Weil ich verstehe.
Wir sind Freunde geblieben, Freunde im Abschied, Freunde über die Abgründe des Nicht-Wissen-Wo-Der-Andere-Ist-Was-Er-Macht. Was waren diese vergangenen Jahre denn? Eine Liebesgeschichte? Oder einfach ein Stück Leben: Frühling, Sommer, Herbst und Winter, und dann kamst du nicht mehr, und ein Terror begann, der mich bei jedem hallenden Schritt auf dem Straßenpflaster unten in der Gasse ans Fenster stürzen ließ, zu schauen ob du kämst, aber du kamst nicht!!
Ich weiß nun, was ist. Der Terror ist vorbei. Dabei bin ich mir dieses Wortes, Terror?, nicht einmal sicher. Vielleicht war es ja ich nur, der verrückt war, verrückt ist (wonach? oder nur so, ganz allgemein, als Redensart, so wie... verrückter Kerl!?)
Eine Stimme mahnt mich, nicht mehr daran zu denken. Vernunft.
Aber wer gibt schon etwas Irrationales auf, bevor er nicht mindestens dessen Möglichkeiten ausgelotet hat alle.
Und dann der Anruf von Dir. Es war etwas Fremdes, das über die Leitung kam, etwas vertraut Fremdes. Ich habe dich begriffen, habe verstanden, dass du etwas Irrationales warst, bist, sein wirst: wir haben alle Möglichkeiten erschöpft. Mehr als uns unsre Kräfte erlaubten zu verstehen. Das Gedicht!
Persönlichkeitsabbau. Neubeginn.
Das ist notwendig. Denn hier klingt zu viel Selbstmitleid in mir. Soll bloß keiner Denken, ich kippe gleich aus den Latschen, nur weil...! Hab ich nicht früher schon gesagt, ich sei zäh, ich könne warten?
Wielange? Jahre? Vier mal sieben und vier?
Wie lange dauert es , bis Träume zerbrechen? Wie lange dauert es, bis sie sich in Tausende von spitzen Splittern auflösen, die einem das Gesicht zerkratzen?
Bitte keine Illusionen ausgraben.
Nein, nein. Ich weiß, dass ich auf einem Scherbenhaufen sitze. Aber es gefällt mir hier. Die Aussicht ist gut. (Meine Aussichten.)
Ich sehe Palmen gegen den blauen Horizont, sehe den Wüstenwind durch mein Gehirn jagen, sehe den Stein fliegen, (den sie warfen). Die Blase zerbirst. Die Splitter des Traumes fallen vom Himmel. (Der neue Terror die Erinnerung.)
Noch begreife ich nicht wirklich. Aber wie lange noch? Und: wann beginnt das Morgen hinter den graugrünen Schleiern? Die Augenblicke zerrinnen, doch mein Block aus Nichts, der bleibt. Unbeweglich.
Jenseits befindet sich mein anderes Ich, mein neues Ich. Ich wünschte mir manchmal, eine Frau zu sein, einen Tag lang nur, um zu erfahren, welche Gefühle eine Frau hat.
Was waren deine Gefühle?
(Der Kontrapunkt zu meinen, und meine der Kontrapunkt zu deinen. Und solche sind selbstständige Linien, die doch einander bedingen. Eine These.)
Meine Gefühle sind wie licht, gesehen durch eine Scheibe aus Glas. Eine dicke Scheibe, durch die man nur in eine Richtung sehen kann. Anders hindurch ist sie grau und leer.
Glas. Träume. Gedanken. Dinge aus Nichts. Ständig spielen die zerbrechlichen Sachen eine Rolle in meinem Leben, meinem Tun.
Mein Sein kann diesem Ansturm des Terrors nicht mehr standhalten. Ich habe keine Zeit für Melancholie der Block zerbricht. Und dann: kein Nichts. Fühlbares, Greifbares, ein Strömen, ein Strudeln rings um mich: fließen, mich drehen, mitgerissen werden in einem unheimlichen Sog und war doch nichts anderes, die ganze Zeit, als melancholisch.
Ein sanftes Schweben auf der Welle des Schmerzes süß, bittersüß, einlullend, wie Gift aus der Welt, die hinter mir liegt..
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