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Monopoly
R. Hugh
Man möchte fliehen. Irgendwohin, wo man es einfach
hat, mit seinen Gefühlen klar zu kommen, mit dem Leben überhaupt:
in eine erfundene Welt zum Beispiel. Nicht daß es dort Töten
und Angst nicht gäbe. Aber dort wären sie das 'Salz in der Suppe',
das man selbst dosieren könnte. Alles in solch einer Welt müßte
so geschehen, wie ihr Schöpfer es bestimmte, alles - auch Angst und
Gewalt - müßte seinem Willen gehorchen... Man wäre 'Gott
in der Suppe'.
Vom Flur her hörte Alfred Stimmen von Mitpatienten. Ein Mädchen
lachte.
Die lachen, dachte Alfred träge. Die lachen, und ich sitze hier und
warte, ohne zu wissen, worauf. Auf die nächste Therapie-stunde mit
Dr. Stroetmann? Auf Brigittas nächsten Besuch? Darauf, daß
man mich nach Hause entläßt, zurück in die Sackgasse?
Da bleibe ich doch lieber hier und warte. Anderes bleibt mir ja gar nicht
übrig. Alles steht gegen mich.
Alfred saß auf dem Sofa im Aufenthaltsraum der Klinik, träumte
vor sich hin. Es gab nichts sonst zu tun. Und die anderen Patienten ließen
ihn in Ruhe. Jeder ließ hier jeden in Ruhe, solange man sich nicht
außerhalb gewisser Regeln bewegte, die auf der Station galten.
Es donnerte. Draußen zog eines der letzten Gewitter des Jahres auf.
"Wer spinnt, kommt fort", war eine Redensart unter seinen Schulkameraden
im Internat gewesen, was heißen sollte, man werde in die 'Psychiatrische'
auf dem Schwarzenhof eingeliefert. Nie hatte Alfred sich damals vorgestellt,
je wirklich dort zu sein. Und nun war er da. Sogar freiwillig.
Freiwillig.
Man hatte im Krankenhaus ziemlich Druck auf ihn ausgeübt. Und die
Ärzte hatten auch Brigitta, seine Lebensgefährtin bearbeitet,
denn sie hatte ihm ebenfalls zugeredet, diese 'Chance' zu nutzen.
Wie ein eisiger, schwarzer Block waren seine Empfindungen, wenn Alfred
daran dachte. Und er fühlte, dahinter lauerte ein wildes 'Haßtier'...
Nicht nur zugeredet hatte sie ihm, sie hatte ihn abgeschoben, hatte ihn
loswerden, ihm nicht helfen wollen. Statt mit ihm darüber zu reden,
was ihn quälte, hatte sie ihn fallenlassen, fallen lassen..., tief...
"Spielen wir Monopoly?" Das Mädchen, das im Flur gelacht
hatte, stand bei ihm. Alfred blickte auf. Tatsächlich. Sie hatte
ihn gefragt.
"Monopoly?", wiederholte er fragend.
Das Mädchen schaute ihn auffordernd an. Vor Alfreds ins Leere starrenden
Augen aber entstand Brigittas Gesicht.
"...Und aus der Ferne schauen mich deine fremden, unwirklichen Augen
an, fragen sich, ob ich das bin", murmelte er deklamierend. Er wußte
nicht, woher die Worte stammten. Allerdings dachte er auch nicht weiter
darüber nach, denn trotz der Trägheit, die von Medikamenten
verursacht wurde, wirbelten die Gedanken durch seinen Kopf. Bilder entstanden,
- ein Schachbrett mit Menschen als Figuren - , verblassten wieder, wurden
abgelöst von Stimmen, die immer alle ihm gehörten. Es war, als
führe er mit sich selbst Gespräche. "Sicher. Ich bin so",
antwortete deshalb eine innere Stimme auf sein gemurmeltes Zitat. Und
nach einer Weile: "Es ist nur alles so zerfahren, der rote Faden,
der mir helfen sollte, er fehlt."
Und eine weitere, spöttisch klingende Stimme rief: "He! Rote
Schlange, wo bist du? Weshalb bist du weggekrochen?"
"Laß sie doch! Möglicherweise brauche ich den roten Faden
gar nicht. Ich bin vielleicht nur eine Schachfigur, irgend ein Heupferd
auf einem Spielbrett, und ich weiß nicht einmal, ob ein schwarzes
oder ein weißes."
"Nicht Schach! Monopoly."
"Vielleicht bin ich auch ein Rädchen in irgend einem Mechanismus,
ein Rädchen, das kein Ziel zu haben braucht, weil es sich sowieso
nur im Kreis dreht, rechts herum, links herum, rechts herum. Oder ich
bin..." In Alfreds Vorstellung entstand das Bild einer Schnecke,
die sich - angestoßen durch ein von Menschenhand geführtes
Stöckchen - in ihr Haus zurückzog.
"Was ist nun? Spielen wir?"
Alfred nickte.
Straßen, hohe Häuser, violett, hellblau... 'Gehe ins Gefängnis,
begib dich direkt dort hin, gehe nicht über Los, ziehe nicht viertausend
Mark ein'... lila, hellbraun, rot... die Fahrt durch die Straßenschluchten
wurde immer schneller, immer wilder,... Lessingstraße, gelb, Goetheplatz,
Türme ragten auf, Bahnhofstraße , grün, Rathausplatz...
silbrige und goldene Lichter zerplatzten zwischen den Häuserblocks.
Einer der Pfleger im Krankenhaus hatte, um seinen Entscheidungsprozess
zu forcieren, angedeutet, es gebe da noch das Mittel der Zwangseinweisung.
Bei Selbstmordkandidaten wende man das im Allgemeinen an, wenn sie sich
nicht freiwillig für die Verlegung auf den Schwarzenhof entschieden.
So hatte Alfred nach einigen Tagen eingewilligt, obwohl er sich fragte,
was er hier sollte: er hatte sich nicht umbringen wollen. Ihm war einfach
die Kontrolle entglitten, alles war ihm egal gewesen.
Es war ihm auch jetzt noch alles egal, und Dr. Stroetmann, sein Therapeut
mußte damit eben klar kommen. Alfred fragte sich ohnehin, was es
nützen sollte, drei- oder viermal pro Woche eine genau bemessene
dreiviertel Stunde bei Dr. Stroetmann zu sitzen und ihm seine Träume
zu erzählen. Meist konnte Alfred sich an seine Träume gar nicht
erinnern. Und die Tagträume, in denen er sich eine Fluchtwelt erschuf,
eine Geschichte in Fortsetzungen, so vielfältig, daß er schon
begann, den Überblick zu verlieren, die gingen Dr. Stroetmann überhaupt
nichts an. Davon würde er seinem Therapeuten nie erzählen. Seine
Fluchtwelt gehörte ihm, ihm ganz alleine.
Alfred kicherte, als er sich erinnerte, was er, an einem Sommerabend bei
einem Campari-Orange in 'seiner' Eisdiele sitzend, in sein Notizbuch geschrieben
hatte: 'Gott in der Suppe'. Damals hatte er geglaubt, in seiner Fluchtwelt
könne er über alles bestimmen, alle seine Erfindungen müßten
allein ihm gehorchen.
Nur hier... Alfreds Lächeln erstarrte, und der kurze Augenblick von
Lebendigkeit in seinem Gesicht wich wieder einer ausdruckslosen Maske,
die ein Unbeteiligter vielleicht für tiefe Traurigkeit hätte
halten können ...nur hier, in der Wirklichkeit, oder sollte er lieber
sagen, in dieser Wirklichkeit, da war er alles andere als ein 'Gott'.
Nichts hier lief so, wie er wollte.
Es war ziemlich düster geworden. Gegen die großen Fenster des
Aufenthaltsraumes trommelten dicke Tropfen des Gewitterregens, der draußen
niederging. Es war kühl, und Alfred fröstelte.
Suizid-Kandidat...pah! Er hatte sich nicht umbringen wollen. Es war nur
nicht so gelaufen, wie er gewollte hatte.
Die Straßen waren öde und leer. Fahles Licht. Regenwolken hingen
dicht über der Schloßallee, die längst keine Bäume
mehr ihr eigen nannte. Donnergrollen brach sich an den glatten Fronten
von Bankpalästen und modernen Hotels - oder war es das Röhren
tieffliegender Düsenjäger?
"Und Feuervögel fliegen übers Land", sang eine Stimme
in seinem Hirn, während er darauf wartete, daß die anderen
ihre Geschäfte abwickelten, "...fliegen übers Land, um
zu töten, unbekannt, reißen Bäumen Blätter aus, wie
böse Buben Fliegen Flügel, tun was ihnen anbefohlen..."
"Von wem?"
"Von Menschen natürlich. Sie bringen den Tod."
Das Töten war ja so einfach geworden. Niemand mußte mehr dem
Feind in die Augen sehen, während er ihn eigenhändig abschlachtete,
ihm das Messer durch die Gurgel zog, den Spieß in den Körper
rammte und durch die Gedärme rührte, bis diese ihr Zusammenspiel
aufgaben, der Feind tot war. Niemand mehr mußte dem Gegner eigenhändig
den Morgenstern auf den Schädel schleudern, den Kopf gar abschlagen...,
nein, nein, es genügte ein Druck mit dem Zeigefinger und hundert
Meter weiter fiel ein anderer Mensch mit kurzem Aufschrei nach hinten
- wenn er überhaupt noch schreien konnte.
Und die niedlichen kleinen Vögelein aus Stahl hoch oben am Himmel,
sie kamen, sprühten ihre orangefarbenen Giftwolken über grüne
Wälder, krallten sich fest mit ihrem Lärmen und Donnerdröhnen,
fest in seinem Gehirn.
Erneut war da seine spöttische Stimme, die, halb sprechend, halb
singend sagte: "Ja, ja! Ich! Klein Bomber-Liebling, kleiner Gigant."
Aus einem dunklen Raum im ersten Stock auf die Straße spähend
sah Alfred dem schattenhaften Lastwagen des 'Giganten' zu , wie er langsam
die nächtliche Straße hinunter rollte. Leuchtreklamen und Neonlichter
brachen aus, stürzten funkensprühend auf den Laster zu, als
würden sie von einem starken Magnetfeld angezogen.
Und das Mädchen sagte: "Du bist dran, Alfred. Nun würfle
schon!"
Alfred würfelte, zog seinen Stein durch die Straßen, düstere,
regennasse Straßen. Donner grollte. Und einen Straßenzug weiter
war das Geräusch marschierende Schritte zu hören. Dann ertönte
eine Trillerpfeife. Die Stiefel standen still. Undeutlich vernahm man
Befehle einer herrschsüchtigen Stimme, dann wieder Schrittgetrappel,
schnell, außer Tritt. Die Truppe schwärmte aus.
Flüsternde Stimmen: "Was ist los?"
"Ich weiß nicht."
Und eine dritte: "Was gibt's denn? Ist Krieg ausgebrochen?"
Die zweite wieder: "Ich weiß es nicht."
Und das Mädchen: "Ach Alfred, nun mach' doch! Du bist dran."
Das Haßtier stieg auf, setzte sich auf seine Hinterläufe, die
vorderen Pranken rissen große, tiefe Wunden in Brigittas zierlichen
Körper. Sie fiel gegen den Hang ins Laub.
"Sie wurde angefallen, von einem wilden Tier!", lief Alfred
laut rufend ins Dorf. "Dort, dort im Wald müßt ihr suchen!"
Hin und her, hin und her, im Laub suchen... "Etwas tiefer am Hang
war es, glaube ich. Ja. Ja, da! Hierher! Hierher!"
Sie war tot. Es sah aus, als sei das alles schon Tage und Wochen her.
Ihr Körper lag bereits halb verborgen unter Schnee, auf der Seite,
die Knie angezogen. Im Schnee hinter ihrem Rücken waren Worte zu
lesen, die sie kurz vor ihrem Sterben geschrieben haben mußte: Kom
jetzt, kom jetzt, kom jetzt. Drei Mal stand das da. Das Wort 'komm' jeweils
nur mit einem 'm' in den Schnee gedrückt, als hätte sie keine
Zeit mehr gehabt...
Aufschluchzend drehte Alfred sich um.
"Schon wieder?", fragte er und griff nach den Würfeln.
Ein weiters Mal jagte er durch die Straßen: Hafenstraße, Neue
Straße, Seestraße. Wenn er in dieser Runde das Geld nicht
aufbrachte, konnte er sich gleich eine Kugel durch den Kopf schießen.
Opernplatz, Museumstraße. Besser wäre, sich zu erhängen.
Das machte weniger von der roten Sauerei, die hinterher ja irgend jemand
wegputzen mußte.
"Wie weit geht eigentlich dein Grundstück, Alfred?"
"Weiß nicht. Soweit ich eben Lust habe, den Rasenmäher
zu schieben."
Die anderen lachten.
Alfred ließ die Wüfel fallen, zog seine Figur, stellte sie
ab am Straßenrand, ließ, als er ausstieg, die schwere Tür
des Wagens satt ins Schloß fallen. Nachdenklich betrachtete er die
Karte in seiner Linken: grün, Bahnhofstraße, Wert mit einem
Atomkraftwerk... Nichts, begriff er, nichts ist sie wert. Achtlos schnippte
er die Karte von sich.
Die lachen, dachte er, sind fröhlich, vergnügen sich, während
ich hier bin und nicht heraus finde.
"Alles steht gegen mich", sagte er, und die anderen nickten
verständnisvoll. "Dabei wollte ich doch nur einen Platz, wo
ich in Frieden ein Haus bauen, Kinder groß ziehen, leben..."
Alfred hielt inne, schaute stumm von einem Mitspieler zum nächsten.
Alle hielten sie die Köpfe gesenkt, die Blicke starr auf das Spielbrett
gerichtet. Nur das Mädchen nicht. Sie schaute ihn mit großen
Augen an.
"Ja, leben!", bekräftigte Alfred.
"Dann geh doch", meinte sie, krümmte in einer unendlich
langsamen Bewegung die Finger und schnippte Alfreds Figur vom Spielfeld.
"Lebe!"
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