Vielleicht treffen wir uns... morgen

 

R. Hugh

 

Es ist spät in der Nacht. Ein Zimmer. Die Tür zum Flur. Gegenüber ein Fenster, schräg gestellt. Ein Vorhang, der sich leicht im Wind bewegt, mit unwirklichem Nachtlicht spielt. Schemenhaft ein Schrank in der Ecke, daneben ein Tisch und zwei Sessel. Der Vorhang wirft lebendige Schatten darauf. Ein Bett. Chris – er kann keinen Schlaf finden. Neben ihm sein Mädchen. Gitti. Sie schläft.
Ein Rauschen geht durch die Luft, draußen vor dem Fenster, in einer anderen Welt. Vielleicht ist es auch nur der Wind, der mit den Blättern der Birke im Garten raschelt. Oder Regen. Oder Nachtfalter, die sich zum Reigen um die Laternen versammeln. Oder Vögel, die sich unruhig in ihren Träumen bewegen. Oder Stimmen, die durch die Nacht kommen, flüstern, unverständliche, sinnlose Worte.
Chris lauscht. Was er hört, ist lediglich Gittis Atem. Sie wird träumen. Chris dreht den Kopf weg. Er will jetzt nicht ihren Atem im Gesicht spüren. Durchs Fenster kommt ein anderer Hauch. Der von Nacht und Regen. Tock, tock. Zwei Tropfen weht der Wind ans Fenster. Die Stimmen wispern, reden von Gefühlen. Chris versteht plötzlich. Anheimelnd ist ihr Wispern, doch schlafen lassen sie ihn nicht. "Weißt du, was ein Gefühl ist?", fragen sie. "Weißt du, was es heißt, seine Ketten zu tragen, ihm nicht entrinnen zu können?"
Ketten! Ketten! Der Wind heulte ums Haus. "Schlafen! Lasst mich doch schlafen!" Ketten.
"Du wirst nicht finden, was du träumst:"
Stille. Der Vorhang schlägt nach der Düsternis im Zimmer. Der Wind heult nicht mehr. Chris summt still eine Melodie vor sich hin, den Teil eines Liedes, Immer die selbe Stelle. Nicht mit der Stimme. Nur in Gedanken.
"Schlaf!"
Der Wind summt wieder mit.
Chris dreht sich auf die Seite, stützt den Kopf mit den Ellbogen auf. "So geht das nicht weiter. Ich muss schlafen. Eine Zigarette!" Seine andere Hand tastet nach dem Licht. "Zigik" Es wird hell im Zimmer. Keine Stimmen mehr. Nur Gewisper des Windes. Auf dem Tisch liegt Tabak, ein Aschenbecher steht daneben. Vorsichtig greift Chris danach. Er will Gitti nicht wecken. Die Decke rutscht weg. Er fröstelt. Gitti darf nicht aufwachen.
Seine Augen gleiten über ihren Körper. Seine Hände lockern Tabak, füllen ihn in Zigarettenpapier, drehen automatisch. Seine Zunge ist trocken. Ihn fröstelt. Mit den Fingern reißt es überstehende Tabakreste ab, steckt die Zigarette in den Mund. Streichholzer!?
Wo sind die Streichhölzer? Gitti hatte sie zuletzt, als sie die berühmte Zigarette zusammen geraucht hatten. "Wo hast du nur die Streichhölzer hingelegt? Sag’s mir, Gitti, in den Schlaf gesunk’nes Weib" Chris lächelt über seine dummen Gedanken und lehnt sich zurück an die Wand. Das Streichholzheftchen liegt direkt neben seinem Kissen.
Wieder lauscht er dem Wind, Gittis Atem, den Stimmen. Der Rauch seiner Zigarette ist ein blauer Schleier, der sich in einem Luftzug auflöst. Mit seiner freien Hand streichelt er Gitti sanft übers Haar. Sie bewegt sich.
"Nein, wie mit Silvy wird es nicht sein", denkt er. Silvy. Ihr Bild hängt noch über seinem Bett. Fünfmal, sechsmal, achtmal viele bunte Fotos. Silvy lachend, Silvy gleichgültig, traurig, Silvy als Madonna verkleidet. ""Silvy... schläfst du? Bringt der Wind deine Stimme?"
Chris drückt die Zigarette aus und löscht das Licht, kriecht zurück unter die Decke. Gänsehaut.
"Bringt der Wind deine Stimme, Silvy?"
Die Birkenblätter im Garten rascheln und wispern: "ja."
"Lass mich hören, was deine Träume sagen. Lass mich den Schleier lüften."
Chris kuschelt sich in sein Kissen, Gitti bewegt sich wieder im Schlaf. Wellen irgendeines Gefühls durchströmen Chris’ Körper.
"Träume, Silvy, träume laut, damit ich deine Träume hören kann."
Er starrt in die Dunkelheit. Nicht lange und seine Augen fallen ihm zu. Draußen prasselt der Regen.
Chris legt eine Hand auf Gittis Körper, lässt sie an ihrer Hüfte ruh’n. Draußen beginnt ein Käuzchen zu schreien. Ein lautes Knacken in seinem Schrank lässt Chris aus seinen beginnenden Träumen aufschrecken. Er dreht seinen Kopf, sucht im Dunkel den Schatten des Schreckens. Es ist nichts. Altes Holz knarrt eben.
"Silvy! Lenk deine Träume!"
Schlaf
"Lenk deine Träume auf einen Weg, wie ich es tue. Vielleicht..."
Schlaf
...treffen wir ‘morgen’ zusammen, wenn unsre Träume sich kreuzen."

 

 

 

© 1974
(Sommer, Ulm)

(product verlag)
ernst-walter hug
schwäbisch hall

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