Schattenwelt

 

R.Hugh

 

Auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock stand in der Ecke ein alter, schwerer Glasschrank. Seltsame Dinge waren darin ausgestellt, Werkzeuge, Gerätschaften, die er als `indianisch' ansah. Auch ein flaches Gebilde war dabei, das aussah wie ein Schild, groß wie ein Mensch, bemalt wie ein Totempfahl, flach wie ein Lebkuchen: ein getrockneter, zu einer zwei Zentimeter dicken, ledrigen Schicht gepreßter Mensch.
Rola war fasziniert von diesem Gebilde, das ihn magisch anzog, seine Schritte verlangsamte, jedesmal, wenn er daran vorbeiging. "Das hat dein Großvater von seinen Reisen mitgebracht", hatte ihm Großmutter erklärt.
"Und wo ist Großvater jetzt?"
"Großvater ist tot". Und dann hatte Großmutter etwas gemurmelt wie "Möge Ra seiner Seele auf ihrer Wanderung behilflich sein." Sie hatte den Kopf zur Seite gewendet, so daß ihre Gesichtszüge hinter dem Schleier verschwanden, in dem seltsam hellen Licht, das die glitzernden Fäden der Gaze reflektierten.
Rola glaubte auch, sich an eine Totenfeier erinnern zu können, an das seltsame Ritual, bei dem die Toten Geschenke erhielten. Doch die Totenfeier seines Großvaters konnte es nicht gewesen sein. Rola hatte seinen Großvater nie kennengelernt. Aber daß er "bekomme ich dann auch ein Geschenk?" gefragt hatte, daran konnte Rola sich erinnern, und daß Großmutter sich zu ihm herabgebeugt, ihm das Gesicht gestreichelt und ihm versprochen hatte, daß er sogar zwei Geschenke erhalten würde. Daß er eines davon mit den Geschenken ins Feuer werfen mußte, welche die Erwachsenen dem Toten auf die lange Reise zu Ra mitgaben, davon hatte Großmutter nichts gesagt. Und Rola war sehr traurig gewesen, hatte geweint...,...
Erst viel später hatte er erfahren, daß die Erwachsenen die Toten betrogen, daß die Päckchen mit den angeblichen Opfergaben nur aus Papier bestanden und daß nur Kinder ein zweites, echtes Geschenk bekamen, weil sie noch nicht begreifen konnten, was Opfergaben waren, vielleicht auch, damit sie sich leichter überwinden konnten, so etwas Schönes wie ein Geschenk dem Feuer zu übergeben.
Rola erinnerte sich an wunderschöne Bauklötzchen, die er damals geschenkt bekommen hatte, rot und grün und gelb lackiert waren sie. Und er hatte, solange Bauklötzchen ihm überhaupt etwas bedeutet hatten, Angst gehabt, seine Großmutter könnte sie zusammen mit anderem Brennholz in den offenen Kamin werfen.
Einmal, das Licht in Rolas Zimmer war schon lange gelöscht, war er aus dem Halbschlaf hochgeschreckt, weil er im Traum seine Bauklötzchen in den Flammen hatte liegen sehen. Rola war aufgestanden und barfuß die Treppe nach unten ins Wohnzimmer gegangen, hatte, immer noch mehr schlafend als wach, unter den Flammen im Kamin nachgesehen. Doch dort hatten nur frisch nachgelegte Birkenstämme gebrannt und knackende, knisternde Geräusche von sich gegeben.
Dann hatte Großmutter ihn angesprochen, die mit Mutter und einem großen, herrisch wirkenden Mann zusammen in den Sesseln nahebei saß. "Darf ich Ihnen meinen Enkel Rola vorstellen, Rojinnh Fannh", hatte Großmutter gesagt, und der große Mann hatte gönnerhaft und wohlwollend genickt.
Fragend hatte Rola zu Großmutter aufgeschaut, doch die alte Frau hatte ihn lediglich mit kaum sichtbaren Wink zurück auf sein Zimmer geschickt. Mutter hatte ihm still in ihren Sessel zurückgelehnt nachgeblickt, ein blasses, bewegungsloses Gesicht.
"Und wo ist Großvater jetzt?", hatte Rola mit der Großmutter in seiner Vorstellung gesprochen, dem Gesicht, das vor seinen geschlossenen Augen im Dunkeln schwebte, während er so da lag, unter seine warme Decke gekuschelt.
"Auf dem Treppenabsatz im Schrank, Kind."
"In der Vitrine?"
"Ja."
"Der getrocknete Mensch?"
"Hmm."
"..." Rola schluckte. Angst beschlich ihn. Nichts genau Definierbares. Es war einfach da, stand hinter ihm, hauchte ihm in den Nacken. Die feinen Härchen, die entlang der Wirbelsäule wuchsen, stellten sich auf, machten ihn so etwas wie frieren. Aber es war nicht frieren. Es war Dunkelheit, bodenlose Unendlichkeit, die dort hinter seinem Nacken begann...
Mehrmals begegnete Rola einem jungen Mann auf der Treppe: kurz geschnittene Haare, weißes Hemd, schwarze Fliege, schwarze Strickjacke, dunkle Hose mit Bügelfalten. Immer wenn Rola die Treppe nach oben ging, vorbei an der Vitrine mit dem getrockneten Menschen, der da hinter all den anderen ausgestellten Dingen hochkant an der Schrankwand lag, immer konnte Rola sicher sein, daß der junge Mann oben an der Treppe stand, gerade im Begriff zu sein schien, hinunterzugehen. Rola drückte sich mit einem kurzen Gruß an dem Mann vorbei, wandte sich stets nach links, ging einen langen Flur entlang, den er aber nicht näher beschreiben konnte. Irgendwie hatte er diesen Flur nie richtig angeschaut, hatte nie bewußt hingesehen, wußte nicht, ob dort Bilder an der Wand hingen, oder nur Kleiderhaken. Er wußte nur, daß der Flur in ein diffuses Licht getaucht war, hell, hellgrau weiß, und daß er auf ihn immer den Eindruck eines Flures in einem Schulhaus machte. Aber die Vitrine stand doch nicht in einem Schulgebäude, sondern bei Großmutter...(?)
Und wohin ging er in diesem Flur? War dort ein Zimmer, ein Raum, in dem er sich zeitweise aufhielt? Alles verschwamm, löste sich auf in weißem Nebel, durch den hell die Streifen einfallenden Sonnenlichts kreuzten...Licht! Und der nächste Augenblick war ein erneutes Die-Treppe-Hinaufgehen... Der junge Mann in Schwarz-Weiß stand oben, am Ende der Treppe, setzte gerade den Fuß auf die erste Stufe nach unten, starrte Rola an. Rola drückte sich mit einem kurzen Gruß an dem Mann vorbei, wandte sich nach links...
Es war wie ein Summen, ein Brummen, ein Ziehen in Rolas Kopf. Ein Schmerz?
Das ist verrückt, dachte jener Rola, der durch Rolas Traum geisterte. Er drückte sich an dem Jüngling vorbei, bog nach links in den Flur ein. Und wieder löste sich alles auf... Licht!
Das Sehnen blieb.
Laut. Leise. Laut, leise. Lautleiselautleise... waberte das Summen in Rolas Kopf. Das Sehnen zog ihn zur Treppe, zum getrockneten Menschen in der Vitrine.
Schlafwandlerisch erhob sich Rola von seinem Lager. Auf nackten Füßen tappte er über den steinernen, kalten Fußboden einen langen breiten Flur entlang, einen Flur mit hohen Fenstern, die Rola an den Flur seiner Schule erinnerten...
Das war seine Schule! Hinter seinem Rücken befand sich der Durchbruch zur neuen Turnhalle, den Arbeiter erst wenige Wochen zuvor in die Mauer geschlagen hatten. Und den Fenstern gegenüber, da befanden sich die Kleiderhaken links und rechts der Türe zu seinem Klassenzimmer. Frau Thom lauerte dort, seine Lehrerin, die ihn noch niemals hatte leiden können, und der Lehrer für Leibeserziehung namens Och`hh, der ihn einmal geschlagen hatte, mit voller Wucht, mitten ins Gesicht... All das kam ihm gleichzeitig in den Sinn.
Rola ließ die Fenster hinter sich. Dort, dort vorne ging rechts die Treppe ab, nach unten, zum Absatz, auf dem die Vitrine stand. Vorsichtig schlich Rola weiter, setzte einen nackten Fuß vor den andern. Fahles Nachtlicht drang von außen herein. Rola konnte kaum sehen, wohin er ging.
Da. Ein Schatten!
Der Schwarz-Weiße stand am Beginn der Treppe
Es ist verrückt, dachte Rola. Aber im selben Augenblick wußte er auch, daß er nichts mehr dagegen tun konnte. Das Summen und Ziehen in seinem Kopf hatte jeglichen Widerstand gebrochen. Nun riß es ihn mit. Rola fiel dem schwarz-weiß gekleideten Jüngling an den Hals, krallte sich dort fest und ließ sich über den Rücken die Treppe hinunterfallen, zog den Jüngling, der sich nicht wehrte, mit sich. Und im Fallen erkannte Rola, wen er da angefallen hatte. Rola starrte in sein eigenes Gesicht.
Im Augenblick des Erkennens löste sich die Gestalt des Schwarz-Weißen auf.
Rola ignorierte den Schmerz des Falls, stand auf, öffnete die Tür der Vitrine und riß mit einem Ruck die Gestalt des getrockneten Menschen heraus, sodaß alle anderen Gegenstände zur Seite purzelten oder aus dem Schrank heraus zu Boden fielen. Schreiend vor Freude und Angst zugleich, lauthals brüllend stürzte Rola die Treppe hinunter, zur Tür hinaus auf die Straße, den getrockneten Menschen wie einen Schild vor sich haltend.
Laut gellten seine Schreie durch die Nacht.
Aber es war dennoch anders, als Rola erwartet hatte, daß es sein würde. Die Straße war ein schmaler Weg aus festgetretener, festgefahrener Erde. Das Nachbarhaus, auf das er immer noch schreiend zurannte, war ein heruntergekommener Holzbau aus grauen, wettergegerbten Latten...
Nur ein Schuppen, dachte Rola und: "Ich bin ja verrückt!" Abrupt hielt er inne. Er blieb stehen, sein Schrei verstummte, sein Mund blieb starr und weit geöffnet. Rola fühlte die Gefahr der Verrücktheit, die zwischen ihm und dem ledernen Schild des Getrockneten waberte. Ganz langsam streckte er den Arm mit dem Schild in Menschenform immer weiter von sich, er, Rola, mitten auf der nächtlichen Straße...
Der Bann brach. Rola ließ den Schild sinken, drehte sich langsam um und ging zum Haus zurück. Drinnen lehnte er den getrockneten Menschen gegen die Hauswand und ging ein paar Stufen hoch. Erst als Rola sich auf halber Treppenhöhe niedersetzte, erschöpft, müde, verwirrt über sein seltsames Tun, erst als sein Atem sich wieder beruhigte, bemerkte er, daß dies nicht die Treppe war, die er heruntergerannt war.
Er saß auf der Treppe im Hausflur seines Elternhauses. Da gab es keine Vitrine auf dem Treppenabsatz, da war nur eine Grünpflanze. Und oben am Ende der Treppe stand Rolas Vater unter der Tür.
Doch Vater war tot! 16.17 Uhr war es, als er starb! Rola erinnerte sich genau: die Totenfeier!

© 1988 / 90

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ernst-walter hug
schwäbisch hall

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