R.Hugh
Schroedingers Katze

Mit den Fotos auf der Pinnwand konnte Adrian wenig anfangen. Sie lösten keine besondere Stimmung in ihm aus, wie ausgiebig er sie auch betrachtete. Inspiration!? Der Anlasser für seinen Geist bewegte sich nicht mal. Und was bitte sollte er mit einer Spielkarte anfangen: Herz-Ass, mitten auf der Pinnwand. Falscher Treibstoff für seinen Trabi im Kopf. Er spielte nie Karten. Daneben ein Schweizer Taschenmesser. Unbewusst fingerte Adrian nach seinem in der rechten Hosentasche. Ja, es war da. Sein Taschenmesser war der erste Gegenstand, den er sich damals im Westen gekauft hatte...
Mehr als 30 Jahre ist das jetzt her, sinnierte er und sah vor seinem inneren Auge sich selbst aus dem Laden kommen, in dem er dieses tolle Messer gekauft hatte, bezahlt vom ersten Honorar, das er von einer kleinen, regionalen Monatszeitschrift für seine Geschichte erhalten hatte.
Der Westen, das war wie ein Urknall gewesen, für ihn wie für Evelyn. Nur... sie hatten sich als Fünkchen den falschen Galaxien angeschlossen.  Evelyn war ihm entglitten, war erneut in die Hände der Staatsgewalt geraten bei ihren Demonstrationen gegen die Kernkraft, gegen die amerikanischen Atomraketen, die vom Westen aus auf ihre alte Heimat zielten. Und sie hatte sich neu verliebt, ausgerechnet in einen Amerikaner, einen Footballspieler... nicht gut genug für die NFL und deshalb engagiert bei einem europäischen, einem deutschen Club... Frankfurt Galaxy... die falsche Galaxie, Evelyn. Die falsche! Wohin hat dich deine Reise gebracht? In die Psychiatrie! Klinik Schwarzenhof...
Und wohin hat meine Reise mich gebracht? Ich nenne mich Schriftsteller. Aber ich fahre Taxi. Ich bin das lebendige Klischee, das Karen Duve in ihrem Roman verarbeitet hat... Mag ja sein, dass ich nicht der Kollege bin, den sie in ihrem Buch beschreibt. Es gibt mehr von uns, als ihre Leser glauben können... Adrian schüttelte den Kopf, spannte seinen Körper an, gab seinem Bürostuhl einen Schubs, damit er vom Computertisch weg hinüber zum niedrigen Regal gleich neben dem Fenster rollte: zwei Reihen mit Büchern, Zeitschriften, Kartons, in denen er seine Notizen und Schreibversuche aufbewahrte und sein 'Heiligtum', die Unterlagen, die man über ihn in den Stasi-Unterlagen gefunden hatte, damals, nach der Wende. All die Dokumente über die Bespitzelung, seine Verhaftung, seine Verhöre, seine Entlassung und Abschiebung in den Westen, ja sogar Kopien einiger seiner Geschichten, deretwegen man ihn verhaftet hatte: "0:0 für Deutschland", zwei Grenzschützer, die er über den trennenden Stacheldrahtzaun hinweg hatte  Federball  miteinander spielen lassen. Adrian lächelte, ließ sich aus dem Samowar auf dem obersten Regalbrett Tee in seine Tasse laufen. "Hätten Sie nicht die Frechheit besessen, diese Geschichte verfilmen zu wollen", hatte der Stasi-Offizier gesagt, der ihn immer wieder verhörte, "wir wären gar nicht auf sie aufmerksam geworden. CAT Schroedinger... wer kennt schon CAT Schroedinger?!"
Auch Evelyn hatte mit dem Namen nichts anzufangen gewusst, als er sie damals kennen lernte. Cornelius Adrian Timon Schroedinger: seine Eltern hatten sich diesen Spaß erlaubt. "Schau dir doch mal nur die Anfangsbuchstaben meiner Vornamen an", hatte er ihr empfohlen, kurz nachdem er ihr all seine Vornamen über Adrian hinaus, das er als Rufname benutzte, anvertraut hatte. "CAT Schroedinger", hatte sie gesagt und Adrian verständnislos angeschaut. Vom Physiker Erwin Schroedinger, auf dessen Verwandtschaft ihr späterer Schwiegervater so stolz war, hatte sie damals noch nie gehört gehabt, geschweige denn von dessen berühmt gewordenem quantenphysikalischen Gedankenexperiment 'Schroedingers Katze'.
Adrian stellte seine Teetasse, von der er kaum genippt hatte ab, griff Gedanken verloren hinunter zum Karton, in dem er seine Vergangenheit aufbewahrte, zog ihn aus dem Regal, ohne auf die Zettel, die Zeitschrift und den Karton mit Stiften zu achten, die dabei herunter fielen und auf den Boden purzelten.
"Was immer ihr auch mit mir vorhabt", hatte er bei seiner Verhaftung zu den Grauen gesagt, "ihr könnt mir nichts antun, denn ich bin es schon." Die Schergen, die ihn abgeholt hatten, verstanden Adrians Fröhlichkeit bei diesem Satz nicht. Ihr Vorgesetzter schon.
"Sie glauben, wir könnten Ihnen nichts anhaben, solange es die Öffentlichkeit nicht erfährt?", sagte er zu Adrian. "Wissen Sie, wir können es doch. Ihr Name, das ist nur ein Scherz. Uns kommt es gar nicht darauf an, in welchem Zustand, ob tot oder lebendig, Sie sich befinden. Und: wir können noch etwas tun. Wir können den Kasten einfach aufmachen, bevor das politische Quantenereignis eintritt, das Sie sich erhoffen, Herr Schroedingers Katze", sagte er und betonte die "rr"  besonders scharf, "Wir lassen Sie einfach heraus. Sie können ausreisen." Adrian hatte den Oberst in seiner stahlgrauen Uniform nur mit weit aufgerissenen Augen angestarrt. "Na, was sagen Sie nun?", hatte der ihn angeblafft.
"Aber..., aber", stammelte Adrian
 "Ihre junge Frau können Sie mitnehmen, denn die ist ja nun durch die Heirat auch eine Katze, nicht...?"
Adrian nickte langsam, als er begriff, dass dies kein Gegenscherz des Stasi-Offiziers war.
"Nur ihren Herrn Vater, den Experimentator sozusagen, den behalten wir hier. Und seine Frau natürlich, Ihre Frau Mutter."
"Wann?", hatte Adrian schließlich fertig gebracht zu fragen.
Der Oberst hatte von seinen Papieren aufgeblickt, in denen er  mit der Linken eines der oben zusammengehefteten Blätter nach dem andern hochhebend geblättert hatte. "Wann, wann...", sagte er unwirsch. "Ihre Frau haben wir schon herbringen lassen. Heute noch, natürlich. Heute! Es sollte Ihnen als Katze doch egal sein, welche Zeit jenseits Ihres Kastenhorizontes herrscht. Für Sie ist doch alles zur selben Zeit. Noch. Solange wir den Kasten nicht aufmachen."
"Aber ich würde mich doch gerne von meinen Eltern verabsch..."
Der Oberst unterbrach ihn mit einem unwirschen Handzeichen, nachdem er die Blätter, die er mit dieser Hand zuvor gehalten hatte, einfach hatte zurückfallen lassen. Er schloss den Ordner, schob ihn geradwinklig zurück auf die schwarze Tischplatte vor sich, erhob sich, stellte sich hinter seinen Stuhl, stützte sich mit gestreckten Armen auf der Lehne ab. "Natürlich", sagte er, "das können Sie auch." Er lächelte. "Irgendwann vielleicht, per Brief, per Telefon, wenn Sie von sich aus ihren Kasten öffnen und das Experiment abbrechen. Für Ihre Eltern wird es weiterlaufen so lange. Für sie sind Sie drin, im Kasten, hier bei uns... Glauben Sie, Ihr Vater geht das Risiko ein, den Kasten zu öffnen? Solange er zu ist, ist alles möglich. Wenn er ihn öffnet, könnten Sie tot sein." Der Oberst hatte gelacht.
"Sie selbst haben es doch geschrieben: '0:0 für...', genau so könnte es ausgehen.  Ich persönlich, übrigens", sagte er, während er sich vorbeugte, auf einen verborgenen Knopf unterhalb der Tischkante drückte, "ich fand diese Idee ja ganz witzig. Federball, wie? Natürlich eine Verunglimpfung der Staatsgrenze West, aber..."  Er hatte nicht weiter geredet, denn in diesem Augenblick hatte sich die Tür in Adrians Rücken  geöffnet und der Oberst  hatte ihm mit einer Geste bedeutet aufzustehen.
Den Karton auf seinem Schoß mit der einen Hand festhaltend, in der anderen seine Tasse Tee rollte Adrian zurück zum Schreibtisch. Die Tasse fand links neben dem Computer ihren Platz, der Karton rechts auf zwei Stapeln von Büchern: 'Das treffende Wort', ein Notizbuch, ein Englisch-Deutsch Wörterbuch, daneben, das 'Ethymologische  Wörterbuch der deutschen Sprache', ein Telefonbuch, ein Exemplar seiner letzten Veröffentlichung 'Komm großer schwarzer Vogel', die sich bislang gerade 600-mal verkauft hatte. Vom Computermonitor starrte ihn immer noch das Abbild der Pinnwand an, mit dem die Autoren des Kurzgeschichten- Wettbewerbs zu 'ihrer' Geschichte inspiriert werden sollten. Adrian starrte zurück. Es gab nichts zu inspirieren. Seine Geschichte lag da in diesem Karton. Sie war dort, so lange er wusste, dass sie dort war. Wenn er aber den Karton öffnete, war das, was er dort finden würde, noch wirklich? Seine Geschichte? Oder hatte die nicht erst mit dem 'Urknall' begonnen, als Evelyn und er im Westen aus dem Bus gestiegen waren... Das wirbelnde Nachtleben West-Berlins, Blitzlicht-Gewitter, Behördenvertreter, der Flug in den wirklichen Westen, Behördenmenschen, eine Fahrt mit dem Bus durch Städte, Dörfer, Wiesen und Wälder, die friedliche Ruhe in einer staatlichen Unterkunft, der Bundestagsabgeordnete, der sie mit in seine Heimatstadt nahm, die Arbeit, er auf dem Großmarkt, Evelyn in ihrem erlernten Beruf als Krankenschwester, ihre Wohnung in der Ostendstraße, nur zehn Gehminuten vom Großmarkt entfernt, Evelyn, die eines Tages nicht mehr nach Hause kam, Nicole, die er am Großmarkt kennen gelernt hatte... Jede Woche war sie dort aufgetaucht, um für die vier Hotelbetriebe ihres Vaters einzukaufen, eines Industriellen, genannt 'der Schraubenkönig', der mit seinen 80 000 Angestellten weltweit Befestigungstechnik verkaufte, aber auch Autohäuser sein Eigen nannte, ein Reisebüro, einen Flugplatz für die eigenen Düsenjets, einen Buchverlag, die Hotels,  der Kunst sammelte und sechs große Museen in verschiedenen Ländern unterhielt, klassische Konzerte veranstaltete, alljährlich auf dem großen Gelände zwischen Firmenstammsitz und dem Kongresszentrum, das er gebaut hatte, ein großes Open Air mit aktuellen Künstlern des Pop und Rock... Adrian erinnerte sich gerne an das Konzert mit Sting vor einigen Jahren... Nicole hatte  ihm eines Tages einen Job angeboten. Sie habe keine Lust mehr, jede Woche die 200 Kilometer hierher auf den Großmarkt zu fahren. Sie wolle sich mehr auf ihre Fotografie konzentrieren... Nicole war Hobby-Astronomin, machte wunderschöne Fotos von Planeten, Sternennebeln und Galaxien. Ein paar Jahre später hatten sie gemeinsam einen Bildband im Verlag ihres Vaters veröffentlicht. Adrian hatte die Texte zu ihren imposanten Bildern geschrieben.
"Weißt Du, das Universum ist wie ein Blase" hatte sie ihm einmal erklärt. Vor 13 Milliarden Jahren sind irgendwelche Energien zusammengestoßen, explodiert, haben sich ausgedehnt. Was wir voneinander abhängig als Raum und Zeit empfinden und auch berechnen können, gilt nur innerhalb dieser Explosionsblase. Für uns sind's Milliarden Jahre und Lichtjahre an Entfernungen, von außerhalb betrachtet hat die Blase nur ein paar Meter Durchmesser und existiert vielleicht drei, vier Sekunden, dann sind die bei der Explosion entstandenen Teilchen - unsere Sterne, unsere Galaxien - alle verglüht." Sie hatte ihm von einem Versuch im CERN Institut bei Genf erzählt, wo man versuchte, diesen Urknall zu simulieren, indem man Atome gegenläufig auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigte und aufeinander prallen ließ, hatte ihm ein Foto von einer solchen Explosion gezeigt. "Da drin sind wir", hatte sie gesagt. "Irgendwo da drin. Und das würde auch das Phänomen der 'dunklen Materie' erklären, mit dem sich die Astronomen  seit Jahren beschäftigen, sie zwar berechnen, aber nicht erklären können. Ganz einfach: es ist die Gravitation, die Materie des Labors rund um unsere Blase..." Dann hatte sie gelacht und hatte ihn verwirrt allein gelassen.
Wenn das stimmte, dann hatten die Forscher in Genf ja ein weiteres Universum erzeugt. Hatte es da drin ebenfalls intelligente Wesen gegeben, die dasselbe machten? Und in deren Explosion wieder dasselbe und so weiter bis in alle Unendlichkeit. Und galt das nicht auch rückwärts? In alle Zeiten zurück? Aus Milliarden von Jahren wurden Nanosekunden von Nanosekunden von... So etwas wie Zeit existierte vielleicht gar nicht. Ein Lichtstrahl von fremden Galaxien braucht von außerhalb betrachtet Milliarden von Jahren. Der Lichtstrahl, die Lichtquanten selbst empfanden es als 'nichts'. Ausgestrahlt werden, ankommen. Einfach ein Quantenereignis. Keine Zeit, kein reales Sein, kein Anfang, kein Ende. All diese Blasen, all diese Universen existierten nur von Innen betrachtet. Von außen ein Multiversum aus Nichts in zeitloser Ewigkeit... Aber gab es überhaupt ein 'Außen?'
Immer wieder geisterten seit jenem Gespräch derartige Gedanken durch seinen Geist. "Jetzt schon wieder", murmelte er vor sich hin, während er an seinem Laptop ein neues Fenster öffnete, TextEdit anklickte, sein Notizzettelprogramm, und 'Urknall' tippte.
Diese Forscher in Genf, das sind für die Wesen im Innern der Blase das, was sie als Götter bezeichneten? Unsere Götter, sind das auch Forscher oder nur ein Naturereignis? Oder etwas viel Banaleres? Blitzlichtgewitter. Das Lichtergewirbel des nächtlichen West-Berlin... Nicole, die lachte...
Nicole war vor sechs Jahren gestorben. "Kehlkopfkrebs", hatte ihm Monate später ihr Ehemann erzählt, Personalchef für alles außerhalb des Kernbereichs im Familienunternehmen. Genau das war es, ein Familienunternehmen, nicht börsennotiert , kein Konzern. Viele untereinander verbundene Gesellschaften im Besitz von drei Stiftungen, die Nicoles Großvater schon gegründet hatte.  "Wir empfinden es als sehr bedauerlich, dass Sie ihre  Position verlassen. Ihr jüngstes Buch läuft zwar sehr gut, hat mir Verlagsleiter Komann berichtet. Aber denken Sie wirklich, Sie können sich als freier Schriftsteller ihr Leben finanzieren?"
Adrian war sich damals selbst nicht sicher gewesen. Und es hatte sich auch viel schwieriger gestaltet, als er gedacht hatte. Ein Jahr später hatte er all seine Ersparnisse aufgebraucht, hatte den Taxischein gemacht und sich bei der örtlichen Taxenzentrale verdingt. Seine nächsten Veröffentlichungen, ein Band mit Kurzgeschichten, in dem auch sein '0:0 für Deutschland' enthalten war und sein Psycho-Roman 'Komm großer schwarzer Vogel', in dem er Evelyns Geschichte versucht hatte zu verarbeiten, waren nicht so gut gelaufen.
"Mau".  Adrian blickt nach unten. Sein 'Schaffy' war aufgetaucht, blickte ihn vom Boden aus hochblickend mit seinen großen Augen an. Den schwarzen, kastrierten  MaineCoon-Kater hatte er von einer Mieterin zwei Stockwerke unter seiner Wohnung übernommen, die ausgezogen war und das Tier nicht mitnehmen wollte. "Mau". Adrian streichelte mit einer Hand das Köpfchen des Katers, während er weiter auf den Bildschirm starrte. "Was'n los Katzerle", fragte er. "Schon Zeit für Fressi?" Der Kater kam jeden Abend durch die bei ihm zumeist nur angelehnte Wohnungstüre, um sich sein Futter abzuholen. "Mau" bettelte das Tier ein weiteres Mal, hob eine Pfote hoch zu seinem Knie. "Noch nicht, Katzer", murmelte Adrian. "Ich muss hier erst den Anfang finden. Wenigstens den ersten Satz." Adrian klickte das Pinnwandbild weg, zog den Notizzettel in die Mitte des Bildschirms. 'Urknall' stand da...
"Mama kauf mir Lichtblasen", quengelte der Kleine. Leuchtfontänen schossen ins dichte Dunkel. Nebenan konnte man sich eine Ladung harmonischer Schwingungen kaufen, besonders beliebt bei den jungen Leuten. Ältere vergnügten sich lieber beim Wusel, das unter einem silberglänzenden Dom auf der anderen Seite des Platzes...
"Mau... mau!" Adrian seufzte, unterbrach die Tipperei auf der Tastatur. "Ist ja gut, Schaffy." Er schob seinen Stuhl nach hinten, stand auf.  "Also. Dann komm!" Er verließ sein Schreibzimmer, ging über den Flur, auf dem der schwarze Kater an ihm vorbei flitzte, hinüber zur Küche. "Was willst Du haben, Katzerle, Thunfisch, Ente, Truthahn...?" Schaffy saß vor seinem leeren Schüsselchen, schaute ihn mit großen Augen an. "Mau!" Adrian beugte sich hinunter, nahm das Schüsselchen, ging zur Arbeitsplatte, holte aus der Schublade darunter ein Döschen Katzenfutter... blau... also Thunfisch. Schaffy strich ihm um die Beine. "Katzer pass auf. Ich muss mich bewegen können", murrte Adrian und schubste das Tier etwas zur Seite. "Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mir nicht ihm Weg stehen sollst", schimpfte er, als er hinüber zum Gelben Sack ging, das leere Döschen hinein warf. "Hier dein Futter", meinte er und stellte das Schälchen zurück an den gewohnten Platz. "Fressen für dich, ganz allein für dich", sagte er und strich dem Kater übers lange, schwarze Fell bis nach hinten zum Schwanz. "Oh, hast wieder jede Menge Dreckzeugs im Fell", sagte er, da müssen wir dich nachher bürsten." Schaffy kümmerte weder der Dreck in seinem Schwanzfell noch, was Adrian sagte. Er hatte längst begonnen, die Thunfisch-Pastete aus dem Schüsselchen zu schlappern. Adrian ging zurück ins Schreibzimmer, trank seinen mittlerweile kalt gewordenen Tee, ließ sich neuen aus dem Samowar ein, setzte sich wieder vor den Computermonitor, schrieb weiter, wo er den Satz unterbrochen hatte
... angeboten wurde - man ließ sich ein neu aufgeladenes Feld verpassen und ab ging's auf die wie eine flache Schale geformte Fläche unter der Kuppel. "Wenn Papa wiederkommt, dann muss er mich zu einer Runde Wusel mitnehmen", sagte der Kleine, der sich an dem Zischen und hellen Aufblltzen erfreute, wenn die Felder zusammenstießen und ihre Träger in verschiedenste Richtungen davon schossen. "Bist du dafür nicht noch etwas zu jung?", fragte die Große zur Antwort und schlenderte, den Kleinen mit sich ziehend weiter über den Rummelplatz. Sie steuerte hinüber zur Festwiese unter den Bäumen, wo sie sich eine große Schale Manna gönnen wollte.
Leute lachten und riefen durcheinander, freuten sich, jauchzten und sangen, blieben am einen oder anderen Stand stehen, sahen sich die Auslagen an, kauften sich Glitzer und Sprinkels und leisteten sich auch mal eine innere Erleuchtung. Immer wieder sah man einen durch die Menge treiben, die Fühler sprühend, die Augen weit aufgerissen und ein breites Grinsen im Gesicht, das von innen heraus leuchtete...
Adrian suchte nach seinen Zigaretten, fand die Schachtel schließlich hinter dem hochgeklappten Monitor seines Laptops, zündete sich eine Cig an. Die neunte schon, stellte er nach einem kurzen Blick in den Aschenbecher fest. Einfach für ihn festzustellen, denn er hatte die etwas seltsame Angewohnheit, die Kippen in Reih und Glied am Rand seines Aschenbechers entlang auszurichten. Filter nach außen, weißer abgebrannter Rest nach innen zur Asche hin. Das hatte er sich angewöhnt, als er vor einigen Jahren - die Wartezeiten mit den rauchenden Kollegen in der Taxenzentrale verführten - wieder zu rauchen begonnen hatte. Wie oft hatte er sich selbst vorgehalten, wie blöde er sei, damit wieder angefangen zu haben, nachdem er über 20 Jahre nicht mehr geraucht hatte. Nicole hatte ihn bedrängt es zu versuchen. Da hatte er noch im Großmarkt gearbeitet. Und es hatte tatsächlich funktioniert. Und jetzt? Eine große 30er-Schachtel pro Tag war's mittlerweile. Die brennende Zigarette im Mundwinkel schrieb er weiter.
"Mama, kauf mir Lichtblasen", quengelte der Kleine und versuchte zu einem Stand hin zu flattern, an dem Spielzeug angeboten wurde. Sie zerrte den Kleinen zurück auf den Boden. "Lass das. Flattern ist unfein!" Gleich nebenan rief ein Schreihals nach Kundschaft. "Kommt herein, lasst euch verzücken von den Schrecken der Unterwelt. Kriecht durch das Gewirr des unteren Dunkel. Wir garantieren Befreiung innerhalb von zwei Stets. Die Große lachte innerlich, sträubte die Federn ihrer Schwingen ob des  angeberischen Geschreis. Durch das angebliche Gewirr sauste man in wenigen Jets. Man brauchte nicht im Entferntesten ein Stet, um da durch zu gelangen. Sollte sie mit dem Kleinen zusammen?...
Adrian drückte seine Zigarette aus, legte die Kippe sorgfältig zu den anderen im Aschenbecher.
Sie fühlte sich versucht. Doch der Kleine quengelte wieder. "Kauf mir Lichtblasen, Mama!" Sie gab nach, ging zu dem Stand und erwarb ein kleines Röhrchen. Der Kleine hüpfte vor Freude.
"Nun komm aber weiter, Mama möchte sich noch ein Manna gönnen." Sie zog den Kleinen mit sich durch die Menge dem Festgarten zu. Der Kleine blies seinen Feueratem in das Röhrchen, das Mama ihm geschenkt hatte, erfreute sich an den Lichtblasen, die aufstiegen und oben aus dem Rohr heraus quollen, größer und größer wurden, sich dann ablösten und hinauf ins dichte Dunkel schwebten. Schon bald kamen sie im Trubel außer Sicht. Manche zerplatzen auch noch bevor sie das Röhrchen verlassen hatten, ließen ihre strahlende Substanz am Gefäß entlang hinab auf den Boden tropfen. "Mach dich nicht schmutzig", mahnte die Mama, schaute einer besonders großen Blase zu, wie sie in das dichte Dunkel hinaufstieg.
Die Blase stieg und dehnte sich aus. Zeit verging. Selten nur schafften es Lichtblasen so weit hinauf. Ganz wenige, wenn gewisse zufällige Verkettungen zusammen kamen, gelangten bis hinaus jenseits des dichten Dunkels in die Leere.
Diese Blase stieg. Als sie die Leere erreichte, zerplatzte sie...
... und es ward Licht.
Adrian grinste. Auf dem Rummelplatz bei den Engeln war die Welt entstanden. Von wegen 'Und der Herr sprach...' Er speicherte die Datei ab.... Von wegen Blase aus einem Zusammenstoß von Lichtgeschwindigkeitsatomen in einem Labor. In einem unendlichen Multiversum gab es nichts, was es nicht gab, oder gibt oder geben wird... Adrians Grinsen erstarb. ...sogar eine Katze, die selbst von innen ihren Kasten öffnete und erkennen musste, dass Papa tot war.
Ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung hatte er sich endlich getraut, zurück in den Osten zu fahren. Gemeinsam mit Mutter war er auf den Friedhof gegangen, hatte ein für Fremde sicherlich seltsames Gesteck auf dem Grab seines Vaters hinterlassen: einen Strauß aus blauen Kornblumen, seinen Lieblingsblumen, in der Mitte einen großen Zweig, an dem mehrere kleine weiße Kärtchen baumelten, auf denen eine schwarze Katze sich über ihre Vorderpfoten hinab beugte zu einer kleinen Maus, auf deren Fell das Warnzeichen für 'Radioaktivität' prangte.
Das Bild habe ich noch irgendwo hier auf dem Rechner, dachte Adrian und klickte sich durch seine Verzeichnisse. Ja! Hier!. Ein paar Klicks weiter hatte er auch die Pinnwand von der Ausschreibung des Wettbewerbs wieder auf dem Bildschirm. Adrian kopierte sein Katzenbild und passte es an der Stelle ein, an der auf der Pinnwand das Herz Ass sich befand. So. Da habt ihr meine Inspiration, dachte er. Das bin ich, Schroedingers Katze! Und lebendig, wie Ihr seht...  "Oooch", murmelte er, "hab ich Euch jetzt Euer Experiment verdorben?" Er grinste wieder.
Jetzt, dachte Adrian, müsste ich das Bild nur noch zurück auf die Ausschreibungsseite des Wettbewerbs schicken können... Aber das ging wohl nicht.