Das schwarze Loch

 

R. Hugh

 

Hoch oben am Berg gab es eine weite Fläche aus grünem Gras: Rasen mit weißen Linien. Ein Stadion. Hufeisenförmig ragte eine steile, hohe Tribüne auf. Sie selbst saß hoch oben - in der obersten Reihe der Sitzbänke aus nacktem Beton? - blickte hinab auf die Spielfläche, wo Statuen gleich die Spieler standen und sich nicht rührten. Ein eiförmiger Ball hing bewegungslos über ihren Köpfen, ein Spieler, ein Roboter, das Gesicht verborgen hinter seinem Maskenhelm, hielt jenseits der Linie mit der Markierung 30 die Arme ausgestreckt, um ihn zu empfangen. Rund um Evelyn flüsterten Tausende von Stimmen, dem weißen Rauschen im Aether ähnlich, wenn die Stimme des Reporters im Weltall verloren ging.
Ihr Blick schweifte hinaus, über das Spielfeld hinweg durch die hoch aufragenden Stangen zur zum Tal offenen Seite des Stadions: sanft fiel der Talhang ab, eine Straße, gesäumt von modernen Bogenlaternen, braune Häuser im Pueblostil auf einer Seite, auf der andern freie Flächen voll vertrocknetem Gras und Kakteengestrüpp, bis hinunter ins Tal. Neuzeitliche hohe Bauten dort, weiß mit spiegelnden Fenstern. Und auf der andern Seite des Tales den Hang hinauf viele tausend Hütten, grau, braun weiß, in- und übereinander geschichtet. Darüber die Spitze eines grün-schwarzen Berges, dunstverhangen, wabernd sein Bild hinter dem grellen Sonnenlicht über dem Tal.
So viel Licht. So viel Schmerz! Wie diesem Druck entgehen?... Rasierklingen! Arme aufschlitzen. Nicht zu tief ritzen, nur so, dass es blutet... Evelyn wimmerte. Sie wurde hochgehoben, getragen, von Priestern in weißen Gewändern, hoch hinauf zum Opferstein auf dem schwarzen Berg. Das Jademesser wurde hochgehoben, es stach zu, und der Oberpriester riss ihr das noch schlagende Herz aus der Brust.
Doktor Beckh's Stimme ertönte, laut und das All erfüllend, von jenseits des Ereignishorizontes: "Es kommt der Tag, an dem es mehr schmerzt, verschlossen zu bleiben, als sich zu öffnen."
Schwarze Löcher sind Gegenden, sind Knoten im Universum, wo Materie eng aneinander gepackt so dicht ist, dass aus ihrem Schwerefeld nichts mehr herauskann, kein Molekül, kein Licht, kein Schmerz... Selbst die Bewegung war eine andere. Man fiel, und doch erreichte man die nicht, die schon gefallen waren. Man raste hinunter in den Abgrund, das schwarze Zentrum, und doch fragten einen die Leute von jenseits des Horizonts, warum man sich nicht bewege, warum man nichts tue, warum man nichts unternehme und so träge sei. Rings herum, aus jedem Pünktchen des Seins kam die Angst. Angst!... , nicht Furcht, ...Angst! Dieses zittrige Gefühl in der Brust, das sie empfunden hatte, als sie mit Adrian über die Grenze gekommen war, dort, wo die stahlgraue Staatsgewalt in den Bus eingestiegen war und ein letztes Mal das Gefühl von Drohung und Schrecken verbreitet hatte.
"Nie wieder, nie wieder", hatte Evelyn damals gedacht, als sich die Türen des Transitbusses endlich zischend geschlossen hatten. Auf der anderen Seite der Grenze wurde man nicht eingesperrt, wenn man für den Frieden demonstrierte, da wurde man nicht mundtot gemacht, nur weil man ein satirisches Stück geschrieben hatte... wie Adrian, als er in seinem "0:0 für Deutschland" zwei Grenzschützer über die trennenden Stacheldrahtgitter hinweg hatte Federball spielen lassen. Hätte Adrian nicht die Frechheit besessen, es verfilmen zu wollen, er wäre nie aufgefallen damit, denn so bekannt war er damals nicht im Land, als dass sich die Grauen hätten mit ihm beschäftigen müssen.
Adrian hatte stets Spaß gehabt mit seinen Namen. Seine Eltern hatten sich diesen Spaß erlaubt, als sie ihn so benannten: Cornelius Adrian Timon Schroedinger. Schau dir doch mal nur die Anfangsbuchstaben meiner Vornamen an, hatte er ihr empfohlen, kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten und nachdem er ihr all seine Vornamen über Adrian hinaus, den er als Rufname benutzte, anvertraut hatte. "C, A, T Schroedinger", hatte sie damals gesagt und Adrian verständnislos angeschaut. Vom Physiker Erwin Schroedinger, auf dessen Verwandtschaft ihr Schwiegervater so stolz war, hatte sie damals noch nie gehört gehabt, geschweige denn von dessen berühmt gewordenem quantenphysikalischen Gedankenexperiment.
"Was immer ihr auch mit mir vorhabt", hatte Adrian bei seiner Verhaftung zu den Grauen gesagt, "ihr könnt mir nichts antun, denn ich bin es schon." Die Schärgen, die ihn abgeholt hatten, verstanden Adrians Fröhlichkeit bei diesem Satz nicht. Ihr Vorgesetzter schon.
"Sie glauben, wir könnten Ihnen nichts anhaben, solange es die Öffentlichkeit nicht erfährt?", sagte er zu Adrian. "Wissen Sie, wir können es doch. Ihr Name, das ist nur ein Scherz. Und uns kommt es gar nicht darauf an, in welchem Zustand , ob tot oder lebendig, Sie sich befinden. Und: wir können noch etwas tun. Wir können den Kasten einfach aufmachen, bevor das politische Quantenereignis eintritt, das Sie sich erhoffen, Herr Schroedingers Katze", sagte er und betonte die beiden "rr" besonders scharf, "Wir lassen sie einfach heraus. Sie können ausreisen." Adrian hatte den Oberst in seiner stahlgrauen Uniform nur mit weit aufgerissenen Augen angestarrt. "Na, was sagen sie nun?", hatte der ihn angeblafft.
"Aber..., aber", stammelte Adrian
"Ihre junge Frau können Sie mitnehmen, denn die ist ja nun durch die Heirat auch eine Katze, nicht."
Adrian nickte langsam, als er begriff, dass dies kein Gegenscherz des Stasi-Offiziers war.
"Nur ihren Herrn Vater, den Experimentator sozusagen, den behalten wir hier. Und seine Frau natürlich. Ihre Frau Mutter."
"Wann?", hatte Adrian schließlich fertig gebracht zu fragen.
Und der Oberst hatte von seinen Papieren aufgeblickt, in denen er in einem halb zu sich her gekippten, papierenen Ordner mit der linken eines der oben zusammengehefteten Blätter nach dem andern hochhebend geblättert hatte. "Wann, wann...", sagte er unwirsch. "Ihre Frau haben wir schon herbringen lassen. Heute noch, natürlich. Heute. Es sollte Ihnen als Katze doch egal sein, welche Zeit jenseits Ihres Kastenhorizontes herrscht. Für Sie ist doch alles zur selben Zeit. Noch. Solange wir den Kasten nicht aufmachen."
"Aber ich würde mich doch gerne von meinen Eltern verabsch..."
Der Oberst unterbrach ihn mit einem unwirschen Handzeichen, nachdem er die Blätter, die er mit dieser Hand zuvor gehalten hatte, einfach hatte zurückfallen lassen. Er schloss den Ordner, schob ihn geradwinklig zurück auf die schwarze Tischplatte vor sich. "Natürlich. Das können Sie auch." Er lächelte. "Irgendwann vielleicht, per Brief, per Telefon, wenn sie von sich aus ihren Kasten öffnen und das Experiment abbrechen. Für ihre Eltern wird es weiterlaufen so lange. Für sie sind Sie drin, im Kasten, hier bei uns... Glauben Sie, ihr Vater geht das Risiko ein, den Kasten zu öffnen? Solange er zu ist, ist alles möglich. Wenn er ihn öffnet, könnten Sie tot sein. Der Oberst lachte.
Er stand auf, stellte sich hinter seinen Stuhl, stützte sich ab, sagte, wieder ganz ernst. "Sie selbst haben es doch geschrieben: '0:0 für...', genau so könnte es ausgehen. Ich persönlich übrigens", sagte er, während er sich vorbeugte, auf einen verborgenen Knopf unterhalb der Tischkante drückte, "ich fand diese Idee ja ganz witzig. Federball, wie? Natürlich eine Verunglimpfung der Staatsgrenze West, aber..." Er sprach nicht weiter. Die Tür wurde in Adrians Rücken geöffnet. Der Oberst bedeutete Adrian mit einer Geste aufzustehen. Bringen Sie, ähm, Herrn Schroedinger zurück auf seine Zelle... Und ähm,..., keine Blessuren! Man soll uns ja nichts nachsagen können." Die Wachleute salutierten.
Adrian und die Grenze waren weit weg. Das war vergangen, etwas aus einer anderen Welt. ".. es mehr schmerzt, verschlossen zu bleiben, als sich zu öffnen," verhallte die Stimme im tosenden Lärm aus vielen tausend Kehlen. "Sie müssen jetzt öffnen und über die Flügel kommen, wenn es ihnen ernst damit ist, diese Abwehr zu knacken, " sagte der Kommentator des Spiels im Fernseher. Evelyn wandte den Kopf vom Fenster und den dunklen Bergrücken in der Ferne ab, blickte hinüber zum Bildschirm, um den sie zu viert, zu fünft herumsaßen. Und auch Jonas, der Bausoldat in seinem weißen Kittel, Zivis nannte man diese Verweigerer des Dienstes mit der Waffe hier, stand hinten bei der Tür, schaute quer durch den Aufenthaltsraum zum Bildschirm hin.
Rasend schnell ging es abwärts, hinunter in die Schwärze. Das Licht von außerhalb des Kastens flutete herein in tiefem, immer tieferem Rot. Es wollte ihr einfach nicht gelingen, das Ziehen hinter ihrem Brustbein zu mildern. Im Gegenteil. Je mehr sie sich darauf konzentrierte, desto schlimmer wurde ihr Zustand., Es begann ihr die Brust zuzuschnüren. Und weil sie dachte, nicht genug Luft zum Atmen zu bekommen, holte sie immer tiefer Luft, immer öfter, stoßweise, zu schnell, zu rasch. Nebel verschleierte ihr den Blick und eine unheimliche, Panik erzeugende Lähmung ergriff von ihr Besitz. Sie wollte aufspringen, im Zimmer auf und abgehen, hinaus an die frische Luft, um ihrem Körper ein normales Funktionieren wieder durch die Lungen hineinzupressen. Doch die Beine versagten ihr den Dienst. Und noch während der Bausoldat ihr in Zeitlupe entgegen glitt, er hatte sich irgendwo an der Schwärze abgestoßen und schwebte ihr mit den Händen ausgleichende Zeitlupenbewegungen erzeugend entgegen, wurde es Nacht.
Wieder?
Sie waren freundlich gewesen, sehr freundlich. Aber auch sie hatten Uniformen angehabt. Und die Fragen, die sie gestellt hatten, während sie vorsichtig mit den Fingern nach der schmerzenden Stelle unter ihren Haaren tastete - eine Wahnsinns Beule - sie kamen im gleichen Tonfall, wie bei den Kollegen Ost. Aber das muss wohl so sein, hatte Evelyn damals gedacht. Nur noch diese Fragerunde, dann ist es vorbei. Vorbei mit der Angst vor der Obrigkeit. Denn sie war sich ja keiner Schuld bewusst.
Doch vor der Obrigkeit, ganz gleich welcher, musste man immer Angst haben. Nur die Namen und die Ideale änderten sich mit dem Wechsel über die Grenze. Die Methoden waren, bis auf graduelle Unterschiede und die Begründungen, fast die selben.
Furchteinflößende, in dunkles Grün gekleidete Marionetten, mit Plastehelmen und Schilden unkenntlich gemacht, als wären sie moderne Ritter...
Immer wurde Ritterlichkeit dargestellt, als sei sie etwas Anstrebenswertes, nur weil die Ritter auch mal einer Dame die Hand geküsst und sie vor einem bösen Drachen gerettet hatten. Dabei waren die Ritter doch nur die Büttel der Obrigkeit, des Herrn, des Königs, des Kaisers, des Papstes, für den sie mordend und brandschatzend bis ins Heilige Land reisten..., die Schlägertrupps des Staates, in Eisenrüstung zu Pferde, in grauen Uniformen Knüppel schwingend von Lastwagen herunter tropfend, mordend und brandschatzend Bücher und Menschen auf Scheiterhaufen werfend, in Plaste und dunkles Leder gekleidet... Ihr Befehl: eindreschen auf Zusammenrottungen des Pöbels, der gegen die Gewalt -Tätigkeit des Staates aufmuckt. "Ist der Bauer nicht gewillt, wird er gekillt. Willst Du nicht unsre Schwester sein, schlag'n wir dir den Schädel ein." Wie eine unbekannte Schlangenart erhebt sich ihr Arm vom imaginären Körper, windet sich hinauf durch die Luft zu den Haaren, tastet nach der schmerzenden Stelle. Man kriegt mit dem Gummiknüppel eins auf den Kopf, weil man auf der Straße sitzt, um den Transport einer Tod bringenden Rakete zu behindern. "Mama, ich mach' das, damit sie dich nicht trifft." Man wird vom Druck des Wasserstrahls umgeworfen und anschließend vom werfenden Laster tot gefahren. Und vom Hubschrauber aus werfen sie - mit welchem Recht, in wessen Namen? - Giftgasgranaten auf Kinderwagen und Frauen, auf Verletzte in Rotkreuzzelten, in denen Asthmakranke sterben. Nicht zuletzt deswegen Tränen in den Augen.
Und dann stehen sie da an der Grenze - dieselben Leute - winken, lächeln, verlangen freundlich deinen Pass zu sehen, deinen neuen Pass, mit dem man überall hingehen kann, angeblich. "Mama, ich kann dich nicht besuchen." Sie stecken eine Seite des Passes, die mit der Plastefolie drum herum, in einen Apparat voller Elektronik, die du kaum mehr verstehst, die dir so unheimlich ist, so unheimlich wie die Strahlenwolke, die beim Maifest mit dem Regen über dich kommt. Sie stecken die Plasteseite mit deinem Bild drauf in die Maschine, reißen dir die Daten aus, sortieren, vergleichen, beobachten dich, lauschen auf das, was du denkst, während sie dich zerpflücken. Du bist schließlich der Staatsfeind aus dem Osten. Sie speichern, betatschen und betasten dich, streichelnd fast mit Laserfingern, durchleuchten und begaffen dich mit ihren elektronischen Stielaugen, die Ritter des Herrn.
Und es ist ganz egal, an welcher Grenze des Landes du bist, und fast egal auf welcher Seite, ob sich zischend die Türen des Omnibusses schließen, ob am Stahlzaun des wackeren Dorfes oder sitzend vor den rot-weißen Schranken des Bunker-Gates, hinter dem Tausende von Tonnen strahlenden Todes lauern, für Mama, und Papa, für den Herrn Schwiegervater Schroedinger und Schwiegermama, für Luisa, die Freundin aus der Schule und die Frau Nikorova aus dem Konsumladen, die immer so freundlich ist, auch wenn sie dir nur Magerquark mit Kräutern statt der Butter fürs Plätzchenrezept der Großmutter anbieten kann, so freundlich, obwohl ihr Sergej längst zurück in den großen Bruderstaat nach Osten gemusst hat und sie allein im Wohnblock an der Plösnitzer Allee geblieben ist...
Hoch oben am Berg gab es eine weite Fläche aus grünem Gras: Rasen mit weißen Linien. Ein Stadion. Hufeisenförmig ragte eine steile, hohe Tribüne auf. Sie selbst saß hoch oben - in der obersten Reihe der Sitzbänke aus nacktem Beton? - blickte hinab auf die Spielfläche, wo Statuen gleich die Spieler standen und sich nicht rührten. Ein eiförmiger Ball hing bewegungslos über ihren Köpfen, ein Spieler, ein Roboter, das Gesicht verborgen hinter seinem Maskenhelm, hielt jenseits der Linie mit der Markierung 30 die Arme ausgestreckt, um ihn zu empfangen. Rund um Evelyn flüsterten Tausende von Stimmen, dem weißen Rauschen im Aether ähnlich, wenn die Stimme des Reporters im Weltall verloren ging...."war das knapp, meine Damen und Herren. Wie ein Kanonenschuss aus dem Dunkel kam dieser Ball aus der zweiten Reihe und ging knapp an CAT Schroedinger vorbei. 0:0 steht es, nach wie vor, und es bleibt nur wenig Zeit. Evelyn schlug die Augen auf, kämpfte dagegen an, dass sie ihr gleich wieder zufielen. Nein, sie wollte nicht hinüber rutschen über die Borderline des Ereignishorizontes. "Jetzt schlafen Sie erst mal ein wenig, Frau Schroedinger, sagte Dr. Beckh und tätschelte ihre Wange. "Und danach reden wir darüber, über das Woher", "Nein!", "die Beschaffenheit Ihres schwarzen Loches", "Ich will nicht!", "und über das Wohin." Schlafen. Nein wirklich nicht. Aber was konnte sie schon ausrichten: Glianemon war stärker als ihr Wille...
Was hatte sie da gerade dacht?
"Ich will das nicht."
Wollen?
"Ich, Evelyn? Wie komme ich dazu? Ich will?!... !!!"
Etwas jubelte hinter ihren zufallenden Lidern. Hinter geschlossenen Augen lauschte sie auf das verklingende Zittern, das wie ein Echo herüber hallte vom Horizont. Wispern von tausend Stimmen. "Ohhh", rasten sie bewegungslos hinab ins Dunkel. Hinter ihrem Brustbein nur noch das Wogen eines graugrünen Sees, ein sanftes Auf und Ab, wie es das Pulsen ihres Blutes in den Adern ihr vorgaukelte.

 

 

 

© 1986, 2006

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ernst-walter hug
schwäbisch hall

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