|
Traumkonzert
R. Hugh
Ich hatte einmal einen Traum, den Traum etwas darzustellen
in der Welt, selbst, in jeder Umgebung, steril, kühl, ruhig, stolz.
Mittelpunkt sein.
Ich stehe in einem Raum aus schwarzen Marmorflächen. Nichts daran
ist echt. Verstärker, Kabel, Instrumente: zwischen euch und mir die
trennende Leere.
Da war ich erwacht und fühlte den Tau von Träumen auf meinen
Gedanken kleben. Hatte ich geschlafen oder wach gelegen und einfach still
vor mich hin gelacht? Es war wie ein grauer Schleier vor meiner Erinnerung.
Hörte ich, oder hörte ich nicht?
Euch höre ich. Jetzt. Eurer Raunen und Tuscheln, ein Husten, ein
Schrei. Hört ihr den Ton, der hoch und leise über euch schwebt?
Ich hörte, was zur Nacht in mich drang.
Merkwürdiger Zustand, mein Sein. Ein Traum war zerbrochen, wie ein
Stab aus Glas; nein, er zerplatzte wie ein gläserne Blase. Ich sah
noch das Zittern der Palmwedel in heißer, bläulicher Luft,
dann löschte ein Gespinst aus feinsten Rissen und Sprüngen das
Bild mit milchigem Weiß. Ich fühlte den Hauch deines Atems
auf meinem Gesicht.
Ich fühle ihn noch, wenn ich die Augen schließe.
Doch weil ich überleben wollte, musste dies eine Absage sein. Du
hattest eine Leere hinterlassen, ein Leck, durch das ich ausgeflossen
war. Beinahe verzweifelt hatte ich versucht, es zu stopfen. Seltsam dabei,
wie träge meine Gedanken waren. War ich schon tot gewesen?
Nein. Träge - nicht tot. Was ich fühlte, wird Einsamkeit gewesen
sein.
Einsamkeit?
Einsamkeit kann man ausfüllen. Starren in eine Kerzenflamme hilft,
zum Beispiel. Flammen kämpfen gegen die Kälte.
Fremde Gesichter, fremde Stimmen, Nacht, grelle Lichter, Farben und
eine Kaskade von Tönen.
Die Nacht ist aus einem besonders trennenden Stoff. Pünktchen sitzt
neben Pünktchen aus Dunkelheit. Da hindurch dringen keine Gedanken.
Nur die Klänge meiner Musik.
Ein Traum war zerbrochen, wie eine Kugel aus glitzerndem Glas zerbirst.
Zitternde Ruhe hatte mich umgeben, wenn es denn so etwas gibt. Eine jammernde
Stimme hatte sich beklagt: "Die Nacht hat mich herausgerissen und
in eine Einsamkeit gestoßen, mindestens bis Morgengrauen."
Und flüsternd die Antwort: "Alle Wege führen zu einem Punkt,
dorthin wo wir einmal stehen werden. Egal welchen Weg wir wählen,
es wird immer der richtige sein." Und: "Du bist schuldig!"....
Das Gedicht.
..."Du bist schuldig - besonders, da du viel mehr verstehst, als
deinen Kräften erlaubt ist."
Ich hatte gelauscht in jener Nacht. Aber nur das Atmen der Freunde war
aus dem Dunkel gekommen, und das Rascheln einer Decke. Da waren keine
Stimmen. Nur die Zeiger der Uhr hatten gesagt, dass es Morgen war. Ich
war aufgewacht, wollte allen einen guten Tag wünschen. Doch die Stimme
war mir im Halse stecken geblieben, und meinen Gedanken antwortete nur
mein Traum. Jener Traum, der sich nie beschreiben lässt, der sich
weigert, in Worte gefasst zu werden. Und als ich die Augen öffnete,
sah ich nur Pünktchen neben Pünktchen aus Dunkelheit. Immer
noch Dunkelheit.
Echos hallen von den Wänden zurück. Stimmen, die ich zuvor
nicht habe sprechen hören. Worte hinter den Tönen aus meinem
Instrument. Doch was sie sagen wollen, ist nicht zu verstehen.
"Du bist schuldig", sagen die Worte aus dem Gedicht, "besonders
da du viel mehr verstehst..." Wem galt dies? Mir oder dir? Dir, weil
du gegangen warst? Mir, weil ich wusste, warum? Es gab ein Land, dort,
in meinem Traum, ein Abenteuer, das einen nicht berührte, denn es
fand statt jenseits der gläsernen Blase, dort unter zitternden Palmwedeln.
Eine leere, weite Ebene, blauer Himmel wölbte sich darüber...
Aus der Dunkelheit dröhnt wilde Musik. Ich schaue mich um, drehe
mich selbst. Lange, wehende Haare, verklebt mit dem Rhythmus, wogende
Massen. Sie recken die Fäuste, die toben, sie rufen. Was? Ich schaue
in Gesichter. Gleichgültigkeit dort, reservierte Kühle, Freude
und sprühende Wildheit da, manchmal Ekstase, der Musik wegen. Meinetwegen?
...ein gleißender Sonnenuntergang. Schwarze Wagen. Schwarze Motorräder.
Schwarze Uniformen. Wären sie nicht gewesen, ich hätte gedacht,
ich sei in ein Bild jenes spanischen Malers geraten, wo Elefanten auf
Stelzen laufen und Uhren wie ausgelaufene Gummi-Wärmflaschen über
Bäumen hängen. Motorenlärm. Und ich spürte den Hass,
die Gewalt. Meine innere Angespanntheit. ich dachte, daran würde
ich vielleicht zerbrechen.
Nein. Nicht vielleicht. Das Überleben war hart, kein Zweifel.
Keine Zeit für Trauer, keine Zeit für Melancholie, keine
Zeit - denn die Uhren hängen über den Bäumen.
Meine Gefühle müssen endlich erwachsen werden, damit es kein
Zurück mehr gibt, nur noch Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
bis mir übel davon wird. Dazu ist man schließlich auf der Welt.
Nichts, was ich mir anders wünschte.
Vor mir, aus der Weite der Halle, höre ich ein Rauschen. Das Klatschen
vieler Hände, eurer Hände. Meine Augen sind geschlossen. Ich
lausche der Melodie, sehe Bilder, die meine Musik mir vorgaukelt, erschrecke
über die plötzliche Stille, als euer Klatschen jäh aufhört.
Ihr seid verwirrt über den unpassenden, hallenden Ton, der die Weite
des Raumes hinter euch zu erfassen sucht. Ich höre euer unruhiges
Wispern, das wie Brandung daherkommt, während der Ton weiter verklingt.
Da ist keine Ebene, da ist kein Sonnenuntergang, es gibt keinen Hass,
noch Gewalt. Ich schwebe über einem Land, das in vielen meiner Träume
wiederkehrt: dunstige Luft, grüne Täler, dazu Flüsse und
Bäche, in der Ferne das Meer und die Brandung: das Land aus dem einst
das Leben kam, in das ich zurückkehren werde, versinkend im Ursprung,
als Zelle, deren Verstand entfleucht.
Nichts, was ich mir anders wünschte.
Wir sind Freunde geblieben, Freunde über die Abgründe des Nicht-wissen-wo-der-andere-ist-was-er-macht.
Was waren denn diese fünf vergangenen Jahre? Eine Liebesgeschichte
oder einfach ein Stück Leben? Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
und dann kamst du nicht mehr. Und ein Terror begann, der mich bei jedem
hallenden Schritt in den engen Gassen ans Fenster stürzen ließ,
zu schauen, ob du kämst. Aber du kamst nicht.
Ich hängte mich an Freunde, umgab mich mit vielen Leuten, einer Mauer
aus Menschen. Ich stellte mich bewusst auf dies Bühne, in den schwarzen
Raum aus falschem Marmor, in das gleißende Licht vieler Strahler,
glaubte, ich sei stark. Keine Zeit für Traurigkeit. Aber manchmal
ein klein wenig...Hass.
Sehnsucht nach Geborgenheit.
Und dann fühlte ich, dass mir all das lästig wurde. Ich fühlte
mich schuldig. Ich! In einer Art Trotz versuchte ich auf Geborgenheit
zu verzichten. Habe geglaubt, Geborgenheit nicht mehr nötig zu haben.
Doch zur Nacht, wenn Punkt neben Punkt das Schwarz den Raum erfüllt...
Die letzte Passage. Klänge und Harmonien, aus denen sich einzelne
glockenklare Töne lösen, klirrend wie Glas. Ich weiß,
dass ich auf einem Scherbenhaufen sitze. Aber es gefällt mir hier.
Die Aussicht ist gut. Meine Aussichten. Ich sehe die Palmen gegen den
Horizont, spüre den Wüstenwind durch mein Gehirn jagen, sehe
den Stein fliegen, die Glasscheibe zerbersten, höre die Splitter
des Traumes vom Himmel fallen.
Was waren denn deine Gefühle? Der Kontrapunkt zu meinen? Und meine
der Kontrapunkt zu deinen? Selbstständige Linienführungen, die
einander doch bedingen.
Stille im Saal. Meine Gefühle sind wie Licht, gesehen durch eine
Glasscheibe, durch die man nur in einer Richtung sehen kann. Andersherum
sind sie grau und leer.
Glas, Träume, Gedanken, Musik, Dinge aus Nichts. Ständig spielen
die zerbrechlichen Sachen eine Rolle in meinem Leben, meinem Tun.
Meine Finger tun mir weh vom Spielen. Die letzten Töne sind längst
verklungen, irgendwo tief im Raum. Ihr dort unten im Dunkel, ihr beginnt
zu schreien. Klatschen. Zögerlich zuerst, dann tosend.
Ich: "Dankeschön" - aber ihr begreift nichts. Gar nichts.
|
© 1974 / '75 / '86
product verlag
ernst-walter hug
schwäbisch hall
|