Kleiner Genosse Sin Tian

R. Hugh

 

Triptychon: An den Grenzen der Welt - 2

 

 

Die Lehrerin schrieb Zeichen an die Tafel, erklärte ihre Bedeutung. Alle Kinder sprachen die Worte nach, immer und immer wieder, im Chor. Wei Sin-Tian schrie kräftig mit. Doch mit dem Kopf war er nicht dabei. Die Worte kamen ihm über die Lippen, während er träumend zum Fenster hinausschaute. Ein blaues Rechteck mit kleinen, weißen Wolken darin, das war alles, was er vom Himmel sehen konnte. Doch für seine Träume genügte ihm das. Karawanen zogen weit hinaus in die hitzeflirrende Weite der Salzwüste, wie Schiffe, die den Hafen verließen, um in die ferne Heimat zurückzukehren...
Die Lehrerin schrieb ein neues Zeichen.
Von draußen hörte man den Lärm von Fahrradklingeln, das Brummen von Lastwagen, die mit Gütern vom Hafen zu irgendwelchen Zielen fuhren, Stimmen von Leuten, die auf dem Markt um Preise feilschten und die neuesten Gerüchte austauschten, Stiefeltritte, wenn Arbeitskommandos die Straße vor der Schule entlang marschierten oder ein Trupp der Schwarzen-Miliz von irgendwoher nach irgendwohin unterwegs war. Und vom Himmel kam das Dröhnen eines alten Propellerflugzeugs, das tief über die Stadt hinweg flog, zur Landung auf dem Flughafen ansetzte, dort, wo Vater arbeitete, draußen vor der Stadt.
Es klopfte an der Türe und eine Schülerin der höheren Klasse trat herein. "Chi-Yin", wollte Sin-Tian rufen, als er seine ältere Schwester erkannte. Doch er unterdrückte die Regung, denn die Lehrerin wäre sicher böse geworden. Auch machte Chi-Yin ein ernstes Gesicht, das sie fast wie eine Erwachsene aussehen ließ. Sie brachte der Lehrerin ein Schriftstück in einem verschlossenen Umschlag, einem Umschlag von roter Farbe. "Wenn Sie das den Schülern bekanntmachen wollen, Genossin", sagte Chi-Yin und hielt der Lehrerin ein Klemmbrett mit Formular und daranhängendem Kugelschreiber hin. Die Lehrerin unterschrieb.
Mucksmäuschenstill beobachteten die Schüler die ungewöhnliche Szene. Sie folgten der älteren Schülerin mit ihren Blicken, als diese das Klassenzimmer verließ, schauten neugierig, als die Lehrerin den Umschlag aufriß, einen Zettel hervorzog und hastig las, was darauf geschrieben stand.
"Wir werden jetzt alle nach Hause gehen", sagte die Lehrerin dann. "Ihr werdet dort eure Eltern treffen und dann werdet ihr ein spannendes Abenteuer erleben, denn noch heute nachmittag werden wir dieses Land verlassen. Sagt euren schwarzen Freunden nicht Lebewohl. Dazu ist keine Zeit.
Antreten!"
Die Kinder standen auf, packten ihre Sachen zusammen, redeten durcheinander.
"Ruhe!", rief die Lehrerin. "Wir werden gesittet dieses Land verlassen."
Es wurde still im Klassenzimmer. Über dem Flüstern der Kinder und dem Trappeln ihrer Füße auf dem Zementfußboden konnte man sogar das Summen der Klimaanlage hören.
Als die Kinder sich aufgestellt hatten, öffnete die Lehrerin die Türe und die Kinder marschierten in Zweierreihen hinaus, ihre Bündel mit dem Schulzeug in der Hand.
Draußen schien sich nichts verändert zu haben. Sin-Tian sah einen Trupp schwarzer Arbeiter vorbeimarschieren, Straßenarbeiter, die von ihrer Schicht kamen. Lastwagen fuhren vorbei, ein Jeep, und der heiße Wind wirbelte eine Staubwolke hinterher. "Und geht sofort nach Hause", rief die Lehrerin hinter den davonstürmenden Kindern her. Sin-Tian hob den Arm und beschattete mit der freien Hand die Augen, schaute hinauf in den Himmel, ob er dort etwas bemerken würde, das anders war. Aber nur die Sonne brannte vom Himmel, blendet ihn.
Sin-Tian schaute wieder den Arbeitern nach, blinzelte, weil ihm die Sonne direkt in die Augen geschienen hatte. Grüne Flecke tanzten vor seinen Augen.
"Komm, Sin Tian", sagte die Lehrerin. "Ich begleite dich ein Stück. Deine Mutter wird sicher schon zu Hause sein. Auch das Krankenhaus wird ja geschlossen."
Stolz dachte Sin-Tian an seine Mama in ihrem weißen Doktor-Kittel.
"Warum müssen wir gehen?", fragte er.
"Man hat uns aus dem Land gewiesen, weil unsere Hilfe nicht mehr benötigt wird", antwortete die Genossin Lehrerin.
Ein großes Personenauto kam die Straße heraufgerast, bog am großen Tor in die Siedlung ein, in der sie alle wohnten. In dem Wagen saßen die Genossen Ingenieure. Und da wußte Wei Sin-Tian, was anders war. Der Arbeitertrupp hatte keinen chinesischen Führer gehabt.
Ein weiteres großes Flugzeug flog tief über die Stadt hinweg, setzte zur Landung an. Sin-Tian blickte hinauf. "Werden wir damit fliegen?", fragte er die Lehrerin, die in schneller Gangart vor ihm ging.
"Ja", antwortete sie knapp, warf einen schnellen Blick zum Himmel und ging noch eiliger als zuvor weiter.
Später, als Sin-Tian mit Chi-Yin zwischen Vater und Mutter im Flugzeug saß, sah er Mutter weinen. Vater saß mit versteinertem Gesicht da. Chi-Yin sah ihn fragend an. Doch der Vater lächelte nicht. Heute legte er nicht einmal seine starke Hand auf Sin-Tians Kopf, wie er das sonst immer tat, wenn er etwas erklärte. "Schau mal, kleiner Genosse", pflegte er dann zu sagen... Heute sagte er nur.: "Es ist Krieg ausgebrochen."
Sie saßen im Flugzeug und warteten darauf, daß es zur Startbahn rollte. Doch noch nicht einmal die Motoren waren angelassen worden. Eines der anderen Flugzeuge kam sogar zurück, wie Sin-Tian beobachten konnte, weil er sich über Vaters Schoß hinweg zum Fenster gebeugt und hinausgeschaut hatte. Es rollte langsam die lange Bahn entlang, geriet außer Sicht, kam aber kurze Zeit später zurückgerollt. Und dann waren da plötzlich viele Militärfahrzeuge und Uniformierte der schwarzen Bürgermiliz, die das Gelände rund um die Flugzeuge abriegelten.
"Man hat uns untersagt zu starten", ertönte die Stimme des Genossen Flugkapitän aus dem Lautsprecher. Über dem Indischen Ozean durften keine zivilen Flugzeuge mehr fliegen, verstand Sin-Tian. Doch zur Sicherheit fragte er seinen Vater: "Bleiben wir hier?" Der legte ihm, seine Hand auf den Kopf, strich ihm durchs kurze schwarze Haar. "Es sieht ganz so aus, kleiner Genosse", sagte er.
Und Sin-Tian sprang auf, drehte sich auf dem Sitz kniend um zu seiner Freundin Hsiao-mei, die mit ihren Eltern in der Reihe dahinter saß: "Hsiao-mei, hast du gehört? Wir fliegen nicht. Dann könne wir zurück und Shin-Shin holen. Weißt du, ich mußte das Meerschweinchen zurücklassen..."
"Setz dich hin, kleiner Genosse", sagte Vater und drückte Sin-Tian zurück auf den Sitz. "Wir werden so schnell nirgends hingehen."
"Aber...", setzte die große Schwester zu einer Frage an. Doch dann verstummte sie. Sin-Tian setzte sich, sah seinen Vater stumm und ernst dreinblickend den Kopf schütteln.
Im Laufe des Nachmittags landeten Flugzeuge, die in einer Reihe auf dem Vorfeld abgestellt wurden. Zu jedem Flugzeug fuhr ein Militärfahrzeug hinaus. Aber niemand verließ die Flugzeuge, niemand stieg ein, und keine der Maschinen erhob sich wieder in die Luft.
"Wir dürfen die Türen der Maschine öffnen", sagte der Genosse Kapitän am späten Nachmittag aus dem Lautsprecher. Und alle waren froh, denn es war sehr heiß geworden in der Kabine. Eine uniformierte Genossin ging durch die Reihen und bot allen etwas zu trinken an.
Es wurde sehr schnell Nacht. Auf dem Vorfeld aber blieb es hell. Scheinwerfer strahlten auf die Plätze, wo die Flugzeuge abgestellt waren, und viele blaue und weiße Lichter glommen in Reih und Glied dort auf, wo sich die Rollbahn befand. Doch Flugzeuge kamen keine mehr.
Nur spät am Abend war das Dröhnen eines Düsenflugzeugs zu vernehmen. Lange Lichtfinger bohrten sich in das Dunkel. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern kam ein großer dunkler Schatten herabgeschwebt, drei grelle Lichter, die sich zu Boden senkten.
"Genossen", sagte die Stimme des Flugkapitäns über das Brüllen der Triebwerke im Gegenschub, das man von der Rollbahn herangrollen hörte, "Genossen..., die Welt hat sich selbst den Todesstoß versetzt. Und..." es war sehr still geworden im Flugzeug, und auch die Stimme des Genossen Flugkapitän klang seltsam unsicher, als er zögernd fortfuhr, "...auch unsere Heimat ist im Feuer untergegangen. Was da soeben gelandet ist, ist ein amerikanisches Flugzeug. Ein Atombomber, Genossen..." Die Stimme brach ab und Sin-Tian hatte das unbestimmte Gefühl, als würde der Genosse Flugkapitän weinen. Aber das konnte natürlich nicht sein.
Doch auch Schwester Chi-Yin hatte Tränen in den Augen. Ein kühler Nachtwind kam durch die geöffneten Türen. Noch niemand hatte sie geschlossen, weil man nach der Hitze des Nachmittags die Kühlung genoß.
Nebelhaft konnte Sin-Tian sich vorstellen, was das war, ein Atombomber. Aber er fragte nicht Papa, der alles wußte, denn wenn Papa sein Steingesicht machte, durfte man ihn nicht ansprechen. So genoß es Sin-Tian, von der Mama gestreichelt zu werden, und schloß die Augen. Er dachte an Shin-Shin, sein Meerschweinchen, wie es zu Hause am Gitter seines Käfiges saß und mit glänzenden Augen um Futter bettelte.
Draußen breitete sich eine kalte afrikanische Nacht über das Flugfeld.

 

© 1986/89

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ernst-walter hug
schwäbisch hall

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